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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

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triefen schienen, dort eine Spanne Wolkenlosigkeit
von der blaugrünen Bleifarbe des Nelkenkrautes.
Allenthalben breite, auf- und niederfluthende Menschen-
ströme, behagliches Schlendern und gleichsam geöltes
Hinschießen. Hunderte von entlassenen Arbeitssclaven,
die aus ihren Sälen und Höhlen kamen und eine
karge Stunde der Freiheit genießen wollten. Aus
dem Innern steinerner Thorwege und Hausfluren,
aus geöffneten Kellerfenstern quoll feuchte, kalte Luft.

Adam ließ sich von der Masse mit forttreiben.
Es war ihm gleichgültig wohin. Es war ihm schon
recht so. Er hatte kein Ziel: das Schwimmen mit
dem Strome kam ihm heute außerordentlich gelegen.
Es dünkte ihn auch so passend zu der gesammten
Verfassung seiner Verhältnisse, der schnurrigen Be-
schaffenheit seiner Lebenssituation, so, wie sie heute
von einer schönen Frau eingerenkt und bestimmt war.
Es galt, sich bei Zeiten daran zu gewöhnen, daß
man einen festen Punkt gewonnen hatte, von dem
aus man sich dem realen, lebendigen Leben einfügen
und einordnen sollte.

Jetzt verspürte Adam einen zaghaft zupfenden
Hunger in sich. Und auch die Neigung zu einem guten,
schweren Glase Bier streckte verstohlen ihre kleinen,
warmen, mahnenden, bittenden Fingerchen aus. Aber
wohin sollte er gehen? Die Lokale, die er gewöhnlich
besuchte, waren ihm momentan über Alles verhaßt. Er
konnte es nicht über sich gewinnen, eins oder das andere
aufzusuchen. Jetzt nur keine bekannten Räume, die,
gegenständliche Erinnerungskeime, von irgend welchen

triefen ſchienen, dort eine Spanne Wolkenloſigkeit
von der blaugrünen Bleifarbe des Nelkenkrautes.
Allenthalben breite, auf- und niederfluthende Menſchen-
ſtröme, behagliches Schlendern und gleichſam geöltes
Hinſchießen. Hunderte von entlaſſenen Arbeitsſclaven,
die aus ihren Sälen und Höhlen kamen und eine
karge Stunde der Freiheit genießen wollten. Aus
dem Innern ſteinerner Thorwege und Hausfluren,
aus geöffneten Kellerfenſtern quoll feuchte, kalte Luft.

Adam ließ ſich von der Maſſe mit forttreiben.
Es war ihm gleichgültig wohin. Es war ihm ſchon
recht ſo. Er hatte kein Ziel: das Schwimmen mit
dem Strome kam ihm heute außerordentlich gelegen.
Es dünkte ihn auch ſo paſſend zu der geſammten
Verfaſſung ſeiner Verhältniſſe, der ſchnurrigen Be-
ſchaffenheit ſeiner Lebensſituation, ſo, wie ſie heute
von einer ſchönen Frau eingerenkt und beſtimmt war.
Es galt, ſich bei Zeiten daran zu gewöhnen, daß
man einen feſten Punkt gewonnen hatte, von dem
aus man ſich dem realen, lebendigen Leben einfügen
und einordnen ſollte.

Jetzt verſpürte Adam einen zaghaft zupfenden
Hunger in ſich. Und auch die Neigung zu einem guten,
ſchweren Glaſe Bier ſtreckte verſtohlen ihre kleinen,
warmen, mahnenden, bittenden Fingerchen aus. Aber
wohin ſollte er gehen? Die Lokale, die er gewöhnlich
beſuchte, waren ihm momentan über Alles verhaßt. Er
konnte es nicht über ſich gewinnen, eins oder das andere
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gegenſtändliche Erinnerungskeime, von irgend welchen

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[395/0403] triefen ſchienen, dort eine Spanne Wolkenloſigkeit von der blaugrünen Bleifarbe des Nelkenkrautes. Allenthalben breite, auf- und niederfluthende Menſchen- ſtröme, behagliches Schlendern und gleichſam geöltes Hinſchießen. Hunderte von entlaſſenen Arbeitsſclaven, die aus ihren Sälen und Höhlen kamen und eine karge Stunde der Freiheit genießen wollten. Aus dem Innern ſteinerner Thorwege und Hausfluren, aus geöffneten Kellerfenſtern quoll feuchte, kalte Luft. Adam ließ ſich von der Maſſe mit forttreiben. Es war ihm gleichgültig wohin. Es war ihm ſchon recht ſo. Er hatte kein Ziel: das Schwimmen mit dem Strome kam ihm heute außerordentlich gelegen. Es dünkte ihn auch ſo paſſend zu der geſammten Verfaſſung ſeiner Verhältniſſe, der ſchnurrigen Be- ſchaffenheit ſeiner Lebensſituation, ſo, wie ſie heute von einer ſchönen Frau eingerenkt und beſtimmt war. Es galt, ſich bei Zeiten daran zu gewöhnen, daß man einen feſten Punkt gewonnen hatte, von dem aus man ſich dem realen, lebendigen Leben einfügen und einordnen ſollte. Jetzt verſpürte Adam einen zaghaft zupfenden Hunger in ſich. Und auch die Neigung zu einem guten, ſchweren Glaſe Bier ſtreckte verſtohlen ihre kleinen, warmen, mahnenden, bittenden Fingerchen aus. Aber wohin ſollte er gehen? Die Lokale, die er gewöhnlich beſuchte, waren ihm momentan über Alles verhaßt. Er konnte es nicht über ſich gewinnen, eins oder das andere aufzuſuchen. Jetzt nur keine bekannten Räume, die, gegenſtändliche Erinnerungskeime, von irgend welchen

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Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/403>, abgerufen am 11.05.2024.