Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

ter, ungetheilter Strom gewesen, in dem sich das ganze
Universum gespiegelt. Da hatte er es leicht gehabt,
zu erkennen und zu durchschauen. Nun hatte sich
nach dem natürlichen Gesetze der geistigen Organ-
spaltung sein Seelenleben differenzirt, und der große,
breite, ungetheilte Strom seines Inneren hatte sich
in unzählige Flüsse und Flüßlein, Bäche und Rinn-
sale zersplittert und aufgelöst, darin sich nur noch
zerbrochene Theile und Theilchen des Universums
spiegeln und wiederfinden konnten. Wo einmal ein
einziges, großes, gesammeltes Interesse geherrscht, das
den Tod bedingen mußte, wenn es im rechten Augen-
blicke verstanden, ausgelöst und in die That umge-
setzt wurde, da herrschten jetzt tausend kleinere Son-
derinteressen, die das Leben in sich schlossen. Ja!
Er mußte leben. Er hatte den Tod versäumt. Er
war zum Leben verurtheilt.

Adam erhob sich. Das Bewußtsein, daß er nun
leben mußte, erfüllte ihn mit schneidender Bitter-
keit. Oder --? Aber nein! Jetzt war der Selbstmord,
der "Selbsttod", kein Resultat mehr, kein entscheidender
Gewinn -- nur noch ein Zufall, vielleicht gelegent-
lich die Folge einer zufälligen Nervenüberreizung. Das
war recht hausbacken und hatte so gar nichts Im-
posantes.

Adam trat ans Fenster, öffnete weit die Flügel
und lehnte sich über die Brüstung. Weich und
geschmeidig, einschmeichelnd strich die Frühlingsluft.
Leise begann es zu dämmern. Da unten auf der
Straße warf das Leben ... dieses Leben, das es

ter, ungetheilter Strom geweſen, in dem ſich das ganze
Univerſum geſpiegelt. Da hatte er es leicht gehabt,
zu erkennen und zu durchſchauen. Nun hatte ſich
nach dem natürlichen Geſetze der geiſtigen Organ-
ſpaltung ſein Seelenleben differenzirt, und der große,
breite, ungetheilte Strom ſeines Inneren hatte ſich
in unzählige Flüſſe und Flüßlein, Bäche und Rinn-
ſale zerſplittert und aufgelöſt, darin ſich nur noch
zerbrochene Theile und Theilchen des Univerſums
ſpiegeln und wiederfinden konnten. Wo einmal ein
einziges, großes, geſammeltes Intereſſe geherrſcht, das
den Tod bedingen mußte, wenn es im rechten Augen-
blicke verſtanden, ausgelöſt und in die That umge-
ſetzt wurde, da herrſchten jetzt tauſend kleinere Son-
derintereſſen, die das Leben in ſich ſchloſſen. Ja!
Er mußte leben. Er hatte den Tod verſäumt. Er
war zum Leben verurtheilt.

Adam erhob ſich. Das Bewußtſein, daß er nun
leben mußte, erfüllte ihn mit ſchneidender Bitter-
keit. Oder —? Aber nein! Jetzt war der Selbſtmord,
der „Selbſttod“, kein Reſultat mehr, kein entſcheidender
Gewinn — nur noch ein Zufall, vielleicht gelegent-
lich die Folge einer zufälligen Nervenüberreizung. Das
war recht hausbacken und hatte ſo gar nichts Im-
poſantes.

Adam trat ans Fenſter, öffnete weit die Flügel
und lehnte ſich über die Brüſtung. Weich und
geſchmeidig, einſchmeichelnd ſtrich die Frühlingsluft.
Leiſe begann es zu dämmern. Da unten auf der
Straße warf das Leben ... dieſes Leben, das es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0370" n="362"/>
ter, ungetheilter Strom gewe&#x017F;en, in dem &#x017F;ich das ganze<lb/>
Univer&#x017F;um ge&#x017F;piegelt. Da hatte er es leicht gehabt,<lb/>
zu erkennen und zu durch&#x017F;chauen. Nun hatte &#x017F;ich<lb/>
nach dem natürlichen Ge&#x017F;etze der gei&#x017F;tigen Organ-<lb/>
&#x017F;paltung &#x017F;ein Seelenleben differenzirt, und der große,<lb/>
breite, ungetheilte Strom &#x017F;eines Inneren hatte &#x017F;ich<lb/>
in unzählige Flü&#x017F;&#x017F;e und Flüßlein, Bäche und Rinn-<lb/>
&#x017F;ale zer&#x017F;plittert und aufgelö&#x017F;t, darin &#x017F;ich nur noch<lb/>
zerbrochene Theile und Theilchen des Univer&#x017F;ums<lb/>
&#x017F;piegeln und wiederfinden konnten. Wo einmal ein<lb/>
einziges, großes, ge&#x017F;ammeltes Intere&#x017F;&#x017F;e geherr&#x017F;cht, das<lb/>
den <hi rendition="#g">Tod</hi> bedingen mußte, wenn es im rechten Augen-<lb/>
blicke ver&#x017F;tanden, ausgelö&#x017F;t und in die That umge-<lb/>
&#x017F;etzt wurde, da herr&#x017F;chten jetzt tau&#x017F;end kleinere Son-<lb/>
derintere&#x017F;&#x017F;en, die das <hi rendition="#g">Leben</hi> in &#x017F;ich &#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Ja!<lb/>
Er mußte leben. Er hatte den Tod ver&#x017F;äumt. Er<lb/>
war zum Leben <hi rendition="#g">verurtheilt</hi>.</p><lb/>
        <p>Adam erhob &#x017F;ich. Das Bewußt&#x017F;ein, daß er nun<lb/>
leben <hi rendition="#g">mußte</hi>, erfüllte ihn mit &#x017F;chneidender Bitter-<lb/>
keit. Oder &#x2014;? Aber nein! Jetzt war der Selb&#x017F;tmord,<lb/>
der &#x201E;Selb&#x017F;ttod&#x201C;, kein Re&#x017F;ultat mehr, kein ent&#x017F;cheidender<lb/>
Gewinn &#x2014; nur noch ein <hi rendition="#g">Zufall</hi>, vielleicht gelegent-<lb/>
lich die Folge einer zufälligen Nervenüberreizung. Das<lb/>
war recht hausbacken und hatte &#x017F;o gar nichts Im-<lb/>
po&#x017F;antes.</p><lb/>
        <p>Adam trat ans Fen&#x017F;ter, öffnete weit die Flügel<lb/>
und lehnte &#x017F;ich über die Brü&#x017F;tung. Weich und<lb/>
ge&#x017F;chmeidig, ein&#x017F;chmeichelnd &#x017F;trich die Frühlingsluft.<lb/>
Lei&#x017F;e begann es zu dämmern. Da unten auf der<lb/>
Straße warf das Leben ... die&#x017F;es Leben, das es<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[362/0370] ter, ungetheilter Strom geweſen, in dem ſich das ganze Univerſum geſpiegelt. Da hatte er es leicht gehabt, zu erkennen und zu durchſchauen. Nun hatte ſich nach dem natürlichen Geſetze der geiſtigen Organ- ſpaltung ſein Seelenleben differenzirt, und der große, breite, ungetheilte Strom ſeines Inneren hatte ſich in unzählige Flüſſe und Flüßlein, Bäche und Rinn- ſale zerſplittert und aufgelöſt, darin ſich nur noch zerbrochene Theile und Theilchen des Univerſums ſpiegeln und wiederfinden konnten. Wo einmal ein einziges, großes, geſammeltes Intereſſe geherrſcht, das den Tod bedingen mußte, wenn es im rechten Augen- blicke verſtanden, ausgelöſt und in die That umge- ſetzt wurde, da herrſchten jetzt tauſend kleinere Son- derintereſſen, die das Leben in ſich ſchloſſen. Ja! Er mußte leben. Er hatte den Tod verſäumt. Er war zum Leben verurtheilt. Adam erhob ſich. Das Bewußtſein, daß er nun leben mußte, erfüllte ihn mit ſchneidender Bitter- keit. Oder —? Aber nein! Jetzt war der Selbſtmord, der „Selbſttod“, kein Reſultat mehr, kein entſcheidender Gewinn — nur noch ein Zufall, vielleicht gelegent- lich die Folge einer zufälligen Nervenüberreizung. Das war recht hausbacken und hatte ſo gar nichts Im- poſantes. Adam trat ans Fenſter, öffnete weit die Flügel und lehnte ſich über die Brüſtung. Weich und geſchmeidig, einſchmeichelnd ſtrich die Frühlingsluft. Leiſe begann es zu dämmern. Da unten auf der Straße warf das Leben ... dieſes Leben, das es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/370
Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/370>, abgerufen am 11.05.2024.