der [B]rust gebrochen. Vor Jahren. Sind neue Ausb[r]üche möglich? Aber Nichts stört ja ihre Kreise. Sie war einmal ein sehr sinnliches Weib. Wie nücht[e]rn sie bleibt, wenn sie jetzt an ihre "Schmach" denkt, wenn sie sich ihres Kindes erinnert! Wie kalt [s]ie bleibt, wenn es ihr einfällt, daß dieses Kind ihr e[n]trissen worden ist! Sie hat es nicht geliebt. Nein[!] Sie hat es nicht geliebt. Sie haßt auch den [V]ater des Kindes nicht. Es ist ihr wirklich Alles gleichgültig, sehr gleichgültig. Die Stürme ihrer Seele sind vorüber und ihr Blut ist todt.
[H]edwig ist bei dem Verzehren ihrer Sardellen- leberwurst und bei dem Hinunternippen ihres Glases Dres[d]ener Tafelbiers sehr schweigsam gewesen. Sie hat i[h]rem Vater die Bissen zurechtgeschnitten und selbst sehr mechanisch die Speisen zu sich genommen. Nun [s]treicht sie sich mit der Serviette über den kleine[n], feinlippigen Mund und schellt. Emma tritt ein und deckt ab. Herrn Doctor Irmer ist es nicht aufgef[a]llen, daß seine Tochter während des Essens so ve[r]schlossen gewesen. Ihm ist es sehr gleich- gültig[,] was für Selbstbetrachtungen sie anstellt. Er is[t], ohne daß er es eigentlich weiß, so verbissen in se[i]ne Art, geistig abgelöst, hinweggesondert, zu existir[e]n, daß er kaum mehr im Stande, die leichteste Spur eines subjektiven Zwiespalts zu vermuthen. Wenn es ihm gerade einfällt, bestätigt er sich, daß er durch [s]eine Philosophie seiner Tochter das innere Gleich- gewich[t], das sie einmal verloren hatte, wiedergegeben. Und e[r] fügt wohl unwillkürlich noch als Ergebniß
der [B]ruſt gebrochen. Vor Jahren. Sind neue Ausb[r]üche möglich? Aber Nichts ſtört ja ihre Kreiſe. Sie war einmal ein ſehr ſinnliches Weib. Wie nücht[e]rn ſie bleibt, wenn ſie jetzt an ihre „Schmach“ denkt, wenn ſie ſich ihres Kindes erinnert! Wie kalt [ſ]ie bleibt, wenn es ihr einfällt, daß dieſes Kind ihr e[n]triſſen worden iſt! Sie hat es nicht geliebt. Nein[!] Sie hat es nicht geliebt. Sie haßt auch den [V]ater des Kindes nicht. Es iſt ihr wirklich Alles gleichgültig, ſehr gleichgültig. Die Stürme ihrer Seele ſind vorüber und ihr Blut iſt todt.
[H]edwig iſt bei dem Verzehren ihrer Sardellen- leberwurſt und bei dem Hinunternippen ihres Glaſes Dres[d]ener Tafelbiers ſehr ſchweigſam geweſen. Sie hat i[h]rem Vater die Biſſen zurechtgeſchnitten und ſelbſt ſehr mechaniſch die Speiſen zu ſich genommen. Nun [ſ]treicht ſie ſich mit der Serviette über den kleine[n], feinlippigen Mund und ſchellt. Emma tritt ein und deckt ab. Herrn Doctor Irmer iſt es nicht aufgef[a]llen, daß ſeine Tochter während des Eſſens ſo ve[r]ſchloſſen geweſen. Ihm iſt es ſehr gleich- gültig[,] was für Selbſtbetrachtungen ſie anſtellt. Er iſ[t], ohne daß er es eigentlich weiß, ſo verbiſſen in ſe[i]ne Art, geiſtig abgelöſt, hinweggeſondert, zu exiſtir[e]n, daß er kaum mehr im Stande, die leichteſte Spur eines ſubjektiven Zwieſpalts zu vermuthen. Wenn es ihm gerade einfällt, beſtätigt er ſich, daß er durch [ſ]eine Philoſophie ſeiner Tochter das innere Gleich- gewich[t], das ſie einmal verloren hatte, wiedergegeben. Und e[r] fügt wohl unwillkürlich noch als Ergebniß
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der Bruſt gebrochen. Vor Jahren. Sind neue
Ausbrüche möglich? Aber Nichts ſtört ja ihre Kreiſe.
Sie war einmal ein ſehr ſinnliches Weib. Wie
nüchtern ſie bleibt, wenn ſie jetzt an ihre „Schmach“
denkt, wenn ſie ſich ihres Kindes erinnert! Wie
kalt ſie bleibt, wenn es ihr einfällt, daß dieſes Kind
ihr entriſſen worden iſt! Sie hat es nicht geliebt.
Nein! Sie hat es nicht geliebt. Sie haßt auch
den Vater des Kindes nicht. Es iſt ihr wirklich
Alles gleichgültig, ſehr gleichgültig. Die Stürme ihrer
Seele ſind vorüber und ihr Blut iſt todt.
Hedwig iſt bei dem Verzehren ihrer Sardellen-
leberwurſt und bei dem Hinunternippen ihres Glaſes
Dresdener Tafelbiers ſehr ſchweigſam geweſen. Sie
hat ihrem Vater die Biſſen zurechtgeſchnitten und
ſelbſt ſehr mechaniſch die Speiſen zu ſich genommen.
Nun ſtreicht ſie ſich mit der Serviette über den
kleinen, feinlippigen Mund und ſchellt. Emma tritt
ein und deckt ab. Herrn Doctor Irmer iſt es nicht
aufgefallen, daß ſeine Tochter während des Eſſens
ſo verſchloſſen geweſen. Ihm iſt es ſehr gleich-
gültig, was für Selbſtbetrachtungen ſie anſtellt.
Er iſt, ohne daß er es eigentlich weiß, ſo verbiſſen
in ſeine Art, geiſtig abgelöſt, hinweggeſondert, zu
exiſtiren, daß er kaum mehr im Stande, die leichteſte
Spur eines ſubjektiven Zwieſpalts zu vermuthen.
Wenn es ihm gerade einfällt, beſtätigt er ſich, daß er
durch ſeine Philoſophie ſeiner Tochter das innere Gleich-
gewicht, das ſie einmal verloren hatte, wiedergegeben.
Und er fügt wohl unwillkürlich noch als Ergebniß
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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/37>, abgerufen am 24.11.2024.
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