Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

Bild:
<< vorherige Seite

spruchsvollen Natur kaum auf sich nehmen konnte.
Den ,Märtyrer' spielen -- nein! Vielleicht hatte er
es einmal vermocht. Vor Jahren, vor vielen Jahren
-- heute vermochte er es sicher nicht mehr. Und
sich sonst zum Träger einer ,Rolle' aufwerfen --?
Es hatte nicht viel Zweck. Mag es den Friseuren
überlassen bleiben, auf vorüberflatternde lange Haare
lüstern zu sein. In sich sein -- bei sich sein, in
sich hineinleben, aus sich herausleben -- darauf kam
es an. Ein paar kleine Zugeständnisse mußten ge-
macht werden. Darauf kam es ja aber auch
nicht an. Doch ... sich ausleben ... in der Fülle
und Kraft, wie er es sich einmal erträumt, vor
Jahren für spätere Zeiten der Freiheit erträumt
hatte -- davon konnte wohl kaum mehr die Rede
sein. Er fühlte oft eine so furchtbare Leere in der
Brust .. wie Einer, der an heftigem Schleimhusten
leidet, meint, seine Brust sei leer, ganz leer, ganz
hohl. Und doch! Er mußte sich dieses Weib zu
eigen machen, tausend Gründe zwangen ihn dazu.
Er liebte eigentlich die Menschen .. aber mit ge-
wissen Vertretern sotaner ,Menschheit' kam er zeit-
weilig sehr ungern in Berührung. Und dann um
Gotteswillen keine Enge, keine Beschränkung, keine
Noth! Die Noth stimmt Alles so herab .. ent-
nervt ... entseelt Alles .. höhlt aus .. zerfrißt ..
Nur nicht mechanisch vegetiren, wo man das natür-
liche
Recht besitzt, organisch zu leben. Was hätte
er davon, fragte sich Adam, daß er wußte, wie
Peter seine Wurst ißt und Paul seinen Furz läßt?

ſpruchsvollen Natur kaum auf ſich nehmen konnte.
Den ‚Märtyrer‘ ſpielen — nein! Vielleicht hatte er
es einmal vermocht. Vor Jahren, vor vielen Jahren
— heute vermochte er es ſicher nicht mehr. Und
ſich ſonſt zum Träger einer ‚Rolle‘ aufwerfen —?
Es hatte nicht viel Zweck. Mag es den Friſeuren
überlaſſen bleiben, auf vorüberflatternde lange Haare
lüſtern zu ſein. In ſich ſein — bei ſich ſein, in
ſich hineinleben, aus ſich herausleben — darauf kam
es an. Ein paar kleine Zugeſtändniſſe mußten ge-
macht werden. Darauf kam es ja aber auch
nicht an. Doch ... ſich ausleben ... in der Fülle
und Kraft, wie er es ſich einmal erträumt, vor
Jahren für ſpätere Zeiten der Freiheit erträumt
hatte — davon konnte wohl kaum mehr die Rede
ſein. Er fühlte oft eine ſo furchtbare Leere in der
Bruſt .. wie Einer, der an heftigem Schleimhuſten
leidet, meint, ſeine Bruſt ſei leer, ganz leer, ganz
hohl. Und doch! Er mußte ſich dieſes Weib zu
eigen machen, tauſend Gründe zwangen ihn dazu.
Er liebte eigentlich die Menſchen .. aber mit ge-
wiſſen Vertretern ſotaner ‚Menſchheit‘ kam er zeit-
weilig ſehr ungern in Berührung. Und dann um
Gotteswillen keine Enge, keine Beſchränkung, keine
Noth! Die Noth ſtimmt Alles ſo herab .. ent-
nervt ... entſeelt Alles .. höhlt aus .. zerfrißt ..
Nur nicht mechaniſch vegetiren, wo man das natür-
liche
Recht beſitzt, organiſch zu leben. Was hätte
er davon, fragte ſich Adam, daß er wußte, wie
Peter ſeine Wurſt ißt und Paul ſeinen Furz läßt?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0172" n="164"/>
&#x017F;pruchsvollen Natur kaum auf &#x017F;ich nehmen konnte.<lb/>
Den &#x201A;Märtyrer&#x2018; &#x017F;pielen &#x2014; nein! Vielleicht hatte er<lb/>
es einmal vermocht. Vor Jahren, vor vielen Jahren<lb/>
&#x2014; heute vermochte er es &#x017F;icher nicht mehr. Und<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t zum Träger einer &#x201A;Rolle&#x2018; aufwerfen &#x2014;?<lb/>
Es hatte nicht viel Zweck. Mag es den Fri&#x017F;euren<lb/>
überla&#x017F;&#x017F;en bleiben, auf vorüberflatternde lange Haare<lb/>&#x017F;tern zu &#x017F;ein. In &#x017F;ich &#x017F;ein &#x2014; bei &#x017F;ich &#x017F;ein, in<lb/>
&#x017F;ich hineinleben, aus &#x017F;ich herausleben &#x2014; darauf kam<lb/>
es an. Ein paar kleine Zuge&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;e mußten ge-<lb/>
macht werden. Darauf kam es ja aber auch<lb/><hi rendition="#g">nicht</hi> an. Doch ... &#x017F;ich ausleben ... in <hi rendition="#g">der</hi> Fülle<lb/>
und Kraft, wie er es &#x017F;ich einmal erträumt, vor<lb/>
Jahren für &#x017F;pätere Zeiten der Freiheit erträumt<lb/>
hatte &#x2014; davon konnte wohl kaum mehr die Rede<lb/>
&#x017F;ein. Er fühlte oft eine &#x017F;o furchtbare Leere in der<lb/>
Bru&#x017F;t .. wie Einer, der an heftigem Schleimhu&#x017F;ten<lb/>
leidet, meint, &#x017F;eine Bru&#x017F;t &#x017F;ei leer, ganz leer, ganz<lb/>
hohl. Und doch! Er mußte &#x017F;ich die&#x017F;es Weib zu<lb/>
eigen machen, tau&#x017F;end Gründe zwangen ihn dazu.<lb/>
Er liebte eigentlich die Men&#x017F;chen .. aber mit ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Vertretern &#x017F;otaner &#x201A;Men&#x017F;chheit&#x2018; kam er zeit-<lb/>
weilig &#x017F;ehr ungern in Berührung. Und dann um<lb/>
Gotteswillen keine Enge, keine Be&#x017F;chränkung, keine<lb/>
Noth! Die Noth &#x017F;timmt Alles &#x017F;o herab .. ent-<lb/>
nervt ... ent&#x017F;eelt Alles .. höhlt aus .. zerfrißt ..<lb/>
Nur nicht mechani&#x017F;ch vegetiren, wo man das <hi rendition="#g">natür-<lb/>
liche</hi> Recht be&#x017F;itzt, organi&#x017F;ch zu leben. Was hätte<lb/>
er davon, fragte &#x017F;ich Adam, daß er wußte, wie<lb/>
Peter &#x017F;eine Wur&#x017F;t ißt und Paul &#x017F;einen Furz läßt?<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[164/0172] ſpruchsvollen Natur kaum auf ſich nehmen konnte. Den ‚Märtyrer‘ ſpielen — nein! Vielleicht hatte er es einmal vermocht. Vor Jahren, vor vielen Jahren — heute vermochte er es ſicher nicht mehr. Und ſich ſonſt zum Träger einer ‚Rolle‘ aufwerfen —? Es hatte nicht viel Zweck. Mag es den Friſeuren überlaſſen bleiben, auf vorüberflatternde lange Haare lüſtern zu ſein. In ſich ſein — bei ſich ſein, in ſich hineinleben, aus ſich herausleben — darauf kam es an. Ein paar kleine Zugeſtändniſſe mußten ge- macht werden. Darauf kam es ja aber auch nicht an. Doch ... ſich ausleben ... in der Fülle und Kraft, wie er es ſich einmal erträumt, vor Jahren für ſpätere Zeiten der Freiheit erträumt hatte — davon konnte wohl kaum mehr die Rede ſein. Er fühlte oft eine ſo furchtbare Leere in der Bruſt .. wie Einer, der an heftigem Schleimhuſten leidet, meint, ſeine Bruſt ſei leer, ganz leer, ganz hohl. Und doch! Er mußte ſich dieſes Weib zu eigen machen, tauſend Gründe zwangen ihn dazu. Er liebte eigentlich die Menſchen .. aber mit ge- wiſſen Vertretern ſotaner ‚Menſchheit‘ kam er zeit- weilig ſehr ungern in Berührung. Und dann um Gotteswillen keine Enge, keine Beſchränkung, keine Noth! Die Noth ſtimmt Alles ſo herab .. ent- nervt ... entſeelt Alles .. höhlt aus .. zerfrißt .. Nur nicht mechaniſch vegetiren, wo man das natür- liche Recht beſitzt, organiſch zu leben. Was hätte er davon, fragte ſich Adam, daß er wußte, wie Peter ſeine Wurſt ißt und Paul ſeinen Furz läßt?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/172
Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/172>, abgerufen am 05.12.2024.