Distichons .. Ich denke und forsche. Nur die Er- kenntniß ist real ..."
"Gewiß! Aber um erkennen zu können, bedarf man, abgesehen von der psychischen Grunddisposition, einer gewissen inneren, durchgesiebten Fülle, die i- dentisch mit Stille und feiner, leise vibrirender, seelischer Gespanntheit ist ... Und der Besitz dieser Gespanntheit hängt doch vielfach von den äußeren Verhältnissen ab -- von Verhältnissen, die man in der Erkenntniß als werthlose Illusionen verwerfen muß .. und die trotzdem die Bedingungen sind, sine quibus intelligi non possit, nicht wahr? Das Reale ist vom Abstrakten abhängig, nicht das Abstrakte vom Realen ..."
"Hm ... hm ..." Irmer fuhr sich mit den weißen, schmalen, knochigen Fingern seiner rechten Hand über die hohe, durchfurchte, krankhaft ausge- bleichte Stirn. "Und schließlich wissen wir doch Nichts --" fügte er mit leiser, müder, umflorter Stimme hinzu.
"Haben Sie's fertig gebracht, ganz zu ver- zichten, Herr Doctor?" fragte Adam, weniger, um das Gespräch zu vertiefen, als um es weiterzu- spinnen. Es war ihm plötzlich eine bezwingende Sehn- sucht nach Hedwig in die Seele getreten. Er hätte heute zu gern noch einmal ihr trotzig-gleichgültiges Gesicht vor sich gehabt, zu gern noch einmal den Blick ihres schweren, dunklen Auges herausgefordert. Also durfte er die Unterhaltung um keinen Preis an der galoppirenden Schwindsucht crepiren lassen.
Diſtichons .. Ich denke und forſche. Nur die Er- kenntniß iſt real ...“
„Gewiß! Aber um erkennen zu können, bedarf man, abgeſehen von der pſychiſchen Grunddispoſition, einer gewiſſen inneren, durchgeſiebten Fülle, die i- dentiſch mit Stille und feiner, leiſe vibrirender, ſeeliſcher Geſpanntheit iſt ... Und der Beſitz dieſer Geſpanntheit hängt doch vielfach von den äußeren Verhältniſſen ab — von Verhältniſſen, die man in der Erkenntniß als werthloſe Illuſionen verwerfen muß .. und die trotzdem die Bedingungen ſind, sine quibus intelligi non possit, nicht wahr? Das Reale iſt vom Abſtrakten abhängig, nicht das Abſtrakte vom Realen ...“
„Hm ... hm ...“ Irmer fuhr ſich mit den weißen, ſchmalen, knochigen Fingern ſeiner rechten Hand über die hohe, durchfurchte, krankhaft ausge- bleichte Stirn. „Und ſchließlich wiſſen wir doch Nichts —“ fügte er mit leiſer, müder, umflorter Stimme hinzu.
„Haben Sie's fertig gebracht, ganz zu ver- zichten, Herr Doctor?“ fragte Adam, weniger, um das Geſpräch zu vertiefen, als um es weiterzu- ſpinnen. Es war ihm plötzlich eine bezwingende Sehn- ſucht nach Hedwig in die Seele getreten. Er hätte heute zu gern noch einmal ihr trotzig-gleichgültiges Geſicht vor ſich gehabt, zu gern noch einmal den Blick ihres ſchweren, dunklen Auges herausgefordert. Alſo durfte er die Unterhaltung um keinen Preis an der galoppirenden Schwindſucht crepiren laſſen.
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Diſtichons .. Ich denke und forſche. Nur die Er-
kenntniß iſt real ...“
„Gewiß! Aber um erkennen zu können, bedarf
man, abgeſehen von der pſychiſchen Grunddispoſition,
einer gewiſſen inneren, durchgeſiebten Fülle, die i-
dentiſch mit Stille und feiner, leiſe vibrirender,
ſeeliſcher Geſpanntheit iſt ... Und der Beſitz dieſer
Geſpanntheit hängt doch vielfach von den äußeren
Verhältniſſen ab — von Verhältniſſen, die man in
der Erkenntniß als werthloſe Illuſionen verwerfen
muß .. und die trotzdem die Bedingungen ſind, sine
quibus intelligi non possit, nicht wahr? Das Reale
iſt vom Abſtrakten abhängig, nicht das Abſtrakte vom
Realen ...“
„Hm ... hm ...“ Irmer fuhr ſich mit den
weißen, ſchmalen, knochigen Fingern ſeiner rechten
Hand über die hohe, durchfurchte, krankhaft ausge-
bleichte Stirn. „Und ſchließlich wiſſen wir doch
Nichts —“ fügte er mit leiſer, müder, umflorter
Stimme hinzu.
„Haben Sie's fertig gebracht, ganz zu ver-
zichten, Herr Doctor?“ fragte Adam, weniger, um
das Geſpräch zu vertiefen, als um es weiterzu-
ſpinnen. Es war ihm plötzlich eine bezwingende Sehn-
ſucht nach Hedwig in die Seele getreten. Er hätte
heute zu gern noch einmal ihr trotzig-gleichgültiges
Geſicht vor ſich gehabt, zu gern noch einmal den
Blick ihres ſchweren, dunklen Auges herausgefordert.
Alſo durfte er die Unterhaltung um keinen Preis
an der galoppirenden Schwindſucht crepiren laſſen.
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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/122>, abgerufen am 18.12.2024.
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