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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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daß in einer kleinen Minderzahl von weiblichen Wesen diese
Scheu nicht nur überwunden ist, sondern noch viel mehr. Jene
Mehrzahl ist eine passive Masse, welche ärztliche Hülfe ver-
langt, aber nicht von der Hand des männlichen Arztes; diese
Minderzahl ist eine Auslese activer Kräfte, deren seelische,
geistige, sittliche Beschaffenheit zunächst gar keinen Zusammen-
hang hat mit der Beschaffenheit jener Mehrzahl. Diese activen
Kräfte bestimmen sich nach ihrer eigenen Wahl für den neuen
Beruf und für das dazu gehörige Studium, und die Stimme
unantastbarer weiblicher Autoritäten sollte uns einigermaßen
beruhigen über die sittlichen Gefahren, die daraus entstehen
können. Ja, die Erfahrungen, die uns beruhigen können, sind
längst da. Wenn die in Deutschland gemachten Erfahrungen
nicht genügen, dann die Erfahrungen in der Schweiz, in Eng-
land, in Amerika. Und wer da meint, die Erfahrungen dieser
Länder und ihrer Reformen auf dem Gebiete der Frauenfrage
zurückweisen zu können mit einer angeblichen Eigenart deutscher
Sitten und Sittlichkeit, der verwechselt die Vorurtheile von
Krähwinkel mit der Kenntniß der wirklichen Welt, der weiß
gar nicht, wie die Sitten der Engländerinnen, Schweizerinnen
u. s. w. in Wahrheit beschaffen sind. Er gehe hin und lerne
sie kennen, und wenn er heimkehrt, wird er sich seiner Vor-
urtheile schämen.

Aber liegen die Erfahrungen nicht näher zur Hand?
Haben wir nicht mit der Sanction der ältesten und conservativ-
sten Mächte, im Dienste der katholischen Kirche, neuerdings der
evangelischen Kirche, die weiblichen Krankenpflegerinnen, deren
Einübung für ihren Beruf wie ihre ausübende Thätigkeit eine
Hingabe verlangen von gleicher Art mit derjenigen, welche die
Ausübung des ärztlichen Berufes durch weibliche Wesen fordert?
Muß bei jenen nicht, wie bei diesen, vor dem heiligen Ernste

daß in einer kleinen Minderzahl von weiblichen Wesen diese
Scheu nicht nur überwunden ist, sondern noch viel mehr. Jene
Mehrzahl ist eine passive Masse, welche ärztliche Hülfe ver-
langt, aber nicht von der Hand des männlichen Arztes; diese
Minderzahl ist eine Auslese activer Kräfte, deren seelische,
geistige, sittliche Beschaffenheit zunächst gar keinen Zusammen-
hang hat mit der Beschaffenheit jener Mehrzahl. Diese activen
Kräfte bestimmen sich nach ihrer eigenen Wahl für den neuen
Beruf und für das dazu gehörige Studium, und die Stimme
unantastbarer weiblicher Autoritäten sollte uns einigermaßen
beruhigen über die sittlichen Gefahren, die daraus entstehen
können. Ja, die Erfahrungen, die uns beruhigen können, sind
längst da. Wenn die in Deutschland gemachten Erfahrungen
nicht genügen, dann die Erfahrungen in der Schweiz, in Eng-
land, in Amerika. Und wer da meint, die Erfahrungen dieser
Länder und ihrer Reformen auf dem Gebiete der Frauenfrage
zurückweisen zu können mit einer angeblichen Eigenart deutscher
Sitten und Sittlichkeit, der verwechselt die Vorurtheile von
Krähwinkel mit der Kenntniß der wirklichen Welt, der weiß
gar nicht, wie die Sitten der Engländerinnen, Schweizerinnen
u. s. w. in Wahrheit beschaffen sind. Er gehe hin und lerne
sie kennen, und wenn er heimkehrt, wird er sich seiner Vor-
urtheile schämen.

Aber liegen die Erfahrungen nicht näher zur Hand?
Haben wir nicht mit der Sanction der ältesten und conservativ-
sten Mächte, im Dienste der katholischen Kirche, neuerdings der
evangelischen Kirche, die weiblichen Krankenpflegerinnen, deren
Einübung für ihren Beruf wie ihre ausübende Thätigkeit eine
Hingabe verlangen von gleicher Art mit derjenigen, welche die
Ausübung des ärztlichen Berufes durch weibliche Wesen fordert?
Muß bei jenen nicht, wie bei diesen, vor dem heiligen Ernste

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[156/0172] daß in einer kleinen Minderzahl von weiblichen Wesen diese Scheu nicht nur überwunden ist, sondern noch viel mehr. Jene Mehrzahl ist eine passive Masse, welche ärztliche Hülfe ver- langt, aber nicht von der Hand des männlichen Arztes; diese Minderzahl ist eine Auslese activer Kräfte, deren seelische, geistige, sittliche Beschaffenheit zunächst gar keinen Zusammen- hang hat mit der Beschaffenheit jener Mehrzahl. Diese activen Kräfte bestimmen sich nach ihrer eigenen Wahl für den neuen Beruf und für das dazu gehörige Studium, und die Stimme unantastbarer weiblicher Autoritäten sollte uns einigermaßen beruhigen über die sittlichen Gefahren, die daraus entstehen können. Ja, die Erfahrungen, die uns beruhigen können, sind längst da. Wenn die in Deutschland gemachten Erfahrungen nicht genügen, dann die Erfahrungen in der Schweiz, in Eng- land, in Amerika. Und wer da meint, die Erfahrungen dieser Länder und ihrer Reformen auf dem Gebiete der Frauenfrage zurückweisen zu können mit einer angeblichen Eigenart deutscher Sitten und Sittlichkeit, der verwechselt die Vorurtheile von Krähwinkel mit der Kenntniß der wirklichen Welt, der weiß gar nicht, wie die Sitten der Engländerinnen, Schweizerinnen u. s. w. in Wahrheit beschaffen sind. Er gehe hin und lerne sie kennen, und wenn er heimkehrt, wird er sich seiner Vor- urtheile schämen. Aber liegen die Erfahrungen nicht näher zur Hand? Haben wir nicht mit der Sanction der ältesten und conservativ- sten Mächte, im Dienste der katholischen Kirche, neuerdings der evangelischen Kirche, die weiblichen Krankenpflegerinnen, deren Einübung für ihren Beruf wie ihre ausübende Thätigkeit eine Hingabe verlangen von gleicher Art mit derjenigen, welche die Ausübung des ärztlichen Berufes durch weibliche Wesen fordert? Muß bei jenen nicht, wie bei diesen, vor dem heiligen Ernste

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/172>, abgerufen am 28.03.2024.