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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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der wohlhabenden Klassen in den Vereinigten Staaten von
Amerika. Hier geschieht es wirklich seit langen Jahren und
häufig, daß die Familie ihre gesammte Existenz in das Gast-
haus verlegt. Aus der freien Entwickelung der heutigen Volks-
wirthschaft heraus ist es zu dem Ende gekommen, welches der
Socialismus in seinen Träumereien einst gesetzt hat - der
Mensch lebt im Phalanstere. Um so merkwürdiger ist die
Thatsache, daß für die Mehrzahl der übrigen Haushaltungen,
die in Amerika noch nach alter Weise ihre Jndividualität be-
wahrt haben, starke Gewöhnungen fortwirken, die so recht ein
Stück der alten Zeit sind. Es ist dort eine verbreitete Sitte,
daß die einzelne Haushaltung am eigenen Herde ihr Brot bäckt,
und sie befriedigt dadurch die Ansprüche an den Wohlgeschmack
sowohl wie an die Sicherheit gegen die Unsauberkeit der
Bäckereien. Es ist die alte Sitte des Familienhauses in
Amerika, in England festgehalten, ja weiter ausgebreitet, im
Gegensatz zu der Miethskaserne, die in deutschen Städten an
jenes monströse Phalanstere erinnert, und gegen welche bei uns
heute sich eine beachtenswerthe Reformbewegung erhoben hat,
an deren Spitze die Häupter großer deutscher Städte stehen
um den "Jnsassen der Miethskaserne das Verständniß für Frei-
heit und Eigenthum wiederzugeben"*).

*) Vergl. die Referate von Oberbürgermeister Udikes (Frankfurt
a. M.), Geh. Baurath Hinkeldeyn (Berlin) und Baupolizei-Jnspector
Classen (Hamburg) über "Die Nothwendigkeit weiträumiger Bebauung
bei Stadterweiterungen und die rechtlichen und technischen Mittel zu
ihrer Ausführung". Sonder-Abdruck aus der "Deutschen Viertel-
jahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege." XXVII. Band. Erstes
Heft. 1895. Jn sämmtlichen englischen Städten, die mehr als
100000 Einwohner haben, kamen im Jahre 1891 nur 6,1 Einwohner
auf jedes Haus im Durchschnitt; bei Ausschließung von London

der wohlhabenden Klassen in den Vereinigten Staaten von
Amerika. Hier geschieht es wirklich seit langen Jahren und
häufig, daß die Familie ihre gesammte Existenz in das Gast-
haus verlegt. Aus der freien Entwickelung der heutigen Volks-
wirthschaft heraus ist es zu dem Ende gekommen, welches der
Socialismus in seinen Träumereien einst gesetzt hat – der
Mensch lebt im Phalanstère. Um so merkwürdiger ist die
Thatsache, daß für die Mehrzahl der übrigen Haushaltungen,
die in Amerika noch nach alter Weise ihre Jndividualität be-
wahrt haben, starke Gewöhnungen fortwirken, die so recht ein
Stück der alten Zeit sind. Es ist dort eine verbreitete Sitte,
daß die einzelne Haushaltung am eigenen Herde ihr Brot bäckt,
und sie befriedigt dadurch die Ansprüche an den Wohlgeschmack
sowohl wie an die Sicherheit gegen die Unsauberkeit der
Bäckereien. Es ist die alte Sitte des Familienhauses in
Amerika, in England festgehalten, ja weiter ausgebreitet, im
Gegensatz zu der Miethskaserne, die in deutschen Städten an
jenes monströse Phalanstère erinnert, und gegen welche bei uns
heute sich eine beachtenswerthe Reformbewegung erhoben hat,
an deren Spitze die Häupter großer deutscher Städte stehen
um den „Jnsassen der Miethskaserne das Verständniß für Frei-
heit und Eigenthum wiederzugeben“*).

*) Vergl. die Referate von Oberbürgermeister Udikes (Frankfurt
a. M.), Geh. Baurath Hinkeldeyn (Berlin) und Baupolizei-Jnspector
Classen (Hamburg) über „Die Nothwendigkeit weiträumiger Bebauung
bei Stadterweiterungen und die rechtlichen und technischen Mittel zu
ihrer Ausführung“. Sonder-Abdruck aus der „Deutschen Viertel-
jahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege.“ XXVII. Band. Erstes
Heft. 1895. Jn sämmtlichen englischen Städten, die mehr als
100000 Einwohner haben, kamen im Jahre 1891 nur 6,1 Einwohner
auf jedes Haus im Durchschnitt; bei Ausschließung von London
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[138/0154] der wohlhabenden Klassen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Hier geschieht es wirklich seit langen Jahren und häufig, daß die Familie ihre gesammte Existenz in das Gast- haus verlegt. Aus der freien Entwickelung der heutigen Volks- wirthschaft heraus ist es zu dem Ende gekommen, welches der Socialismus in seinen Träumereien einst gesetzt hat – der Mensch lebt im Phalanstère. Um so merkwürdiger ist die Thatsache, daß für die Mehrzahl der übrigen Haushaltungen, die in Amerika noch nach alter Weise ihre Jndividualität be- wahrt haben, starke Gewöhnungen fortwirken, die so recht ein Stück der alten Zeit sind. Es ist dort eine verbreitete Sitte, daß die einzelne Haushaltung am eigenen Herde ihr Brot bäckt, und sie befriedigt dadurch die Ansprüche an den Wohlgeschmack sowohl wie an die Sicherheit gegen die Unsauberkeit der Bäckereien. Es ist die alte Sitte des Familienhauses in Amerika, in England festgehalten, ja weiter ausgebreitet, im Gegensatz zu der Miethskaserne, die in deutschen Städten an jenes monströse Phalanstère erinnert, und gegen welche bei uns heute sich eine beachtenswerthe Reformbewegung erhoben hat, an deren Spitze die Häupter großer deutscher Städte stehen um den „Jnsassen der Miethskaserne das Verständniß für Frei- heit und Eigenthum wiederzugeben“ *). *) Vergl. die Referate von Oberbürgermeister Udikes (Frankfurt a. M.), Geh. Baurath Hinkeldeyn (Berlin) und Baupolizei-Jnspector Classen (Hamburg) über „Die Nothwendigkeit weiträumiger Bebauung bei Stadterweiterungen und die rechtlichen und technischen Mittel zu ihrer Ausführung“. Sonder-Abdruck aus der „Deutschen Viertel- jahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege.“ XXVII. Band. Erstes Heft. 1895. Jn sämmtlichen englischen Städten, die mehr als 100000 Einwohner haben, kamen im Jahre 1891 nur 6,1 Einwohner auf jedes Haus im Durchschnitt; bei Ausschließung von London

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2021-02-18T15:54:56Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Juliane Nau: Bearbeitung der digitalen Edition. (2021-02-18T15:54:56Z)

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/154>, abgerufen am 25.04.2024.