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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

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Allegorie sich nicht mit Naivität verträgt. Dagegen p2c_778.008
zeigt sie alle Grade des rührenden Schönen. Geist und p2c_778.009
Natur sind in der größten Trennung. Das heftige, das p2c_778.010
starke, das große, das schauderhafte ist geschildert, ohne p2c_778.011
Beymischung des niedern Schönen. Darum entsteht p2c_778.012
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Erhabene.
Uebrigens hat die neue Poesie eine p2c_778.014
sehr alte Quelle, das größte Meisterwerk des Geistes, die p2c_778.015
Bibel. Homer hatte zwar auch Fabeln und Mythologie, p2c_778.016
die er nur zu sammeln brauchte. Allein die höchste Form p2c_778.017
der Schönheit mußte er selbst zu seinem Stoffe hinzuthun. p2c_778.018
Die neue Poesie hingegen hatte die göttliche Poesie p2c_778.019
zur Quelle, zum Muster, da die Bibel von der Genesis p2c_778.020
an bis zur Offenbarung Johannis ein großes poetisches Ganzes p2c_778.021
ist, das die ideale Weltgeschichte vom Anfang bis zum p2c_778.022
Ende der Zeit in sich begreift. Durch die Bibel steht die p2c_778.023
neue Poesie in Verbindung mit dem Kunstgeschmack der p2c_778.024
ältesten Völkerschaften des Orients. Die Tendenz der p2c_778.025
neuen Poesie ist also vielleicht eben so alt, als die Tendenz p2c_778.026
der alten. Denn dieser Contrast eines innern geistigen p2c_778.027
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die Verbindung des kühnsten Gedankens mit den gemeinsten

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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 778. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/302>, abgerufen am 17.05.2024.