p2c_771.001 Geist psychologisch betrachtet, nach Grundsätzen entwickelt. p2c_771.002 Nun giebt es, wie wir gesehn haben, eine göttliche p2c_771.003 Poesie, durch welche gewisse Völker als Repräsentanten p2c_771.004 der ganzen Menschheit ausgezeichnet, und Perioden p2c_771.005 einer idealen Weltgeschichte dargestellt werden. p2c_771.006 Diese, welche die Menschheit durch alle Zeiträume ihrer Erziehung p2c_771.007 begleitet, wird auch die verschiedenen Epochen der p2c_771.008 menschlichen Poesie andeuten. Wenn wir die Religionsgeschichte p2c_771.009 zu Rathe ziehn, (s. oben) finden wir den Menschen p2c_771.010 in drey verschiedenen auf einander folgenden idealen Zuständen p2c_771.011 aufgeführt, welche bey einzelnen Völkern eben so, wie p2c_771.012 im Ganzen statt haben müssen. Zuerst macht der Mensch p2c_771.013 einen Theil der instinctmäßigen Natur aus, und erscheint p2c_771.014 ohne allen Gebrauch der Freyheit. Denken wir uns denselben p2c_771.015 als das edelste Thier, insofern er sich noch nicht von p2c_771.016 der Natur getrennt hat, so ist auch noch keine Kunst möglich. p2c_771.017 Er besitzt blos Kunsttriebe, wie die Biene und p2c_771.018 der Biber. Sein Leben ist Poesie, wie die ganze Natur p2c_771.019 um ihn her Poesie ist. Aber er selbst ist sich noch nicht der p2c_771.020 poetischen Kraft seines Geistes bewußt. Er selbst und p2c_771.021 alles, was er treibt, ist ein Kunstwerk der Natur. Seine p2c_771.022 Sprache kann sich zum Gesang erheben, aber mit eben p2c_771.023 so wenig Bewußtseyn, bestimmter Objektivität und Fortdauer, p2c_771.024 wie wir in dem Gesange einer Nachtigall voraussetzen. p2c_771.025 An Tradition, und schriftliche Aufbewahrung der p2c_771.026 Gedichte ist hier nicht zu denken. Augenblickliche Stimmung p2c_771.027 macht den Dichter, die Wälder der Einöde horchen p2c_771.028 ihm, die ganze Natur nimmt Theil an seinem Gesang. Dies
p2c_771.001 Geist psychologisch betrachtet, nach Grundsätzen entwickelt. p2c_771.002 Nun giebt es, wie wir gesehn haben, eine göttliche p2c_771.003 Poesie, durch welche gewisse Völker als Repräsentanten p2c_771.004 der ganzen Menschheit ausgezeichnet, und Perioden p2c_771.005 einer idealen Weltgeschichte dargestellt werden. p2c_771.006 Diese, welche die Menschheit durch alle Zeiträume ihrer Erziehung p2c_771.007 begleitet, wird auch die verschiedenen Epochen der p2c_771.008 menschlichen Poesie andeuten. Wenn wir die Religionsgeschichte p2c_771.009 zu Rathe ziehn, (s. oben) finden wir den Menschen p2c_771.010 in drey verschiedenen auf einander folgenden idealen Zuständen p2c_771.011 aufgeführt, welche bey einzelnen Völkern eben so, wie p2c_771.012 im Ganzen statt haben müssen. Zuerst macht der Mensch p2c_771.013 einen Theil der instinctmäßigen Natur aus, und erscheint p2c_771.014 ohne allen Gebrauch der Freyheit. Denken wir uns denselben p2c_771.015 als das edelste Thier, insofern er sich noch nicht von p2c_771.016 der Natur getrennt hat, so ist auch noch keine Kunst möglich. p2c_771.017 Er besitzt blos Kunsttriebe, wie die Biene und p2c_771.018 der Biber. Sein Leben ist Poesie, wie die ganze Natur p2c_771.019 um ihn her Poesie ist. Aber er selbst ist sich noch nicht der p2c_771.020 poetischen Kraft seines Geistes bewußt. Er selbst und p2c_771.021 alles, was er treibt, ist ein Kunstwerk der Natur. Seine p2c_771.022 Sprache kann sich zum Gesang erheben, aber mit eben p2c_771.023 so wenig Bewußtseyn, bestimmter Objektivität und Fortdauer, p2c_771.024 wie wir in dem Gesange einer Nachtigall voraussetzen. p2c_771.025 An Tradition, und schriftliche Aufbewahrung der p2c_771.026 Gedichte ist hier nicht zu denken. Augenblickliche Stimmung p2c_771.027 macht den Dichter, die Wälder der Einöde horchen p2c_771.028 ihm, die ganze Natur nimmt Theil an seinem Gesang. Dies
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 771. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/295>, abgerufen am 16.02.2025.
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