Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_700.001 p2c_700.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0224" n="700"/> <p><lb n="p2c_700.001"/><hi rendition="#g">Anmerk.</hi> 1. Hier erscheint die Poesie, als Nebenkunst, <lb n="p2c_700.002"/> welche andre Künste unterstützt. Auf die Tempel <lb n="p2c_700.003"/> der Alten, in ihre Haine, an Bildsäulen, Monumente wurden <lb n="p2c_700.004"/> Jnschriften gesetzt, welche gewöhnlich ganz <hi rendition="#g">beschreibend</hi> <lb n="p2c_700.005"/> waren. Die <hi rendition="#g">Aufschriften</hi> sind also ihrem Wesen <lb n="p2c_700.006"/> nach von dem eigentlichen <hi rendition="#g">Sinngedicht</hi> ganz unterschieden. <lb n="p2c_700.007"/> Die Aufschriften der Alten waren gemeiniglich kleine <lb n="p2c_700.008"/> Gemälde des Gegenstandes für die Phantasie, späterhin nahmen <lb n="p2c_700.009"/> sie freylich auch die Form des Sinngedichts an, das <lb n="p2c_700.010"/> mehr für den Verstand ist. Folgende Aufschrift aus den <lb n="p2c_700.011"/> sogenannten homerischen Epigrammen, die in der Anthologie <lb n="p2c_700.012"/> dem Cleobulus zugeschrieben wird, ist offenbar ein beschreibendes <lb n="p2c_700.013"/> Gedicht, weil es die Phantasie vorzüglich beschäftigt. <lb n="p2c_700.014"/> „Seht, ein Mädchen von Erz, bewach ich den Hügel des <lb n="p2c_700.015"/> Midas, Und so lange der Quell wird rinnen, grünen des <lb n="p2c_700.016"/> Waldes Wipfel, sich füllen der Fluß, laut rauschen das <lb n="p2c_700.017"/> wogige Weltmeer, glänzend steigen die Sonn und lieblich <lb n="p2c_700.018"/> leuchten der Vollmond, werd ich lehnen hier an der vielumweineten <lb n="p2c_700.019"/> Urne, Und dem Wandrer der Fremde verkünden <lb n="p2c_700.020"/> das Grab des Midas.“ ─ Hier ist zwar auch eine Erwartung <lb n="p2c_700.021"/> erregt und eine Auflösung gegeben. Der Verstand <lb n="p2c_700.022"/> hat aber weniger Jnteresse dabey, als die Einbildungskraft. <lb n="p2c_700.023"/> Das Ganze ist ein Bild, eine Beschreibung. Man setze <lb n="p2c_700.024"/> den Fall, auf einer Bildsäule, welche die Victoria mit gebundenen <lb n="p2c_700.025"/> Flügeln vorstellte, hätte man folgendes Epigramm <lb n="p2c_700.026"/> gesunden: <foreign xml:lang="grc">ρωμη παμβασιλεια τεον κλεος ὁυποτ' ὀλειται</foreign> <lb n="p2c_700.027"/> ─ <foreign xml:lang="grc">νικη γαρ σε φυγειν ἀπτερος ὀυ δυναται</foreign>, so ist das <lb n="p2c_700.028"/> auch eine bloße Beschreibung für die Phantasie, welche den </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [700/0224]
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Anmerk. 1. Hier erscheint die Poesie, als Nebenkunst, p2c_700.002
welche andre Künste unterstützt. Auf die Tempel p2c_700.003
der Alten, in ihre Haine, an Bildsäulen, Monumente wurden p2c_700.004
Jnschriften gesetzt, welche gewöhnlich ganz beschreibend p2c_700.005
waren. Die Aufschriften sind also ihrem Wesen p2c_700.006
nach von dem eigentlichen Sinngedicht ganz unterschieden. p2c_700.007
Die Aufschriften der Alten waren gemeiniglich kleine p2c_700.008
Gemälde des Gegenstandes für die Phantasie, späterhin nahmen p2c_700.009
sie freylich auch die Form des Sinngedichts an, das p2c_700.010
mehr für den Verstand ist. Folgende Aufschrift aus den p2c_700.011
sogenannten homerischen Epigrammen, die in der Anthologie p2c_700.012
dem Cleobulus zugeschrieben wird, ist offenbar ein beschreibendes p2c_700.013
Gedicht, weil es die Phantasie vorzüglich beschäftigt. p2c_700.014
„Seht, ein Mädchen von Erz, bewach ich den Hügel des p2c_700.015
Midas, Und so lange der Quell wird rinnen, grünen des p2c_700.016
Waldes Wipfel, sich füllen der Fluß, laut rauschen das p2c_700.017
wogige Weltmeer, glänzend steigen die Sonn und lieblich p2c_700.018
leuchten der Vollmond, werd ich lehnen hier an der vielumweineten p2c_700.019
Urne, Und dem Wandrer der Fremde verkünden p2c_700.020
das Grab des Midas.“ ─ Hier ist zwar auch eine Erwartung p2c_700.021
erregt und eine Auflösung gegeben. Der Verstand p2c_700.022
hat aber weniger Jnteresse dabey, als die Einbildungskraft. p2c_700.023
Das Ganze ist ein Bild, eine Beschreibung. Man setze p2c_700.024
den Fall, auf einer Bildsäule, welche die Victoria mit gebundenen p2c_700.025
Flügeln vorstellte, hätte man folgendes Epigramm p2c_700.026
gesunden: ρωμη παμβασιλεια τεον κλεος ὁυποτ' ὀλειται p2c_700.027
─ νικη γαρ σε φυγειν ἀπτερος ὀυ δυναται, so ist das p2c_700.028
auch eine bloße Beschreibung für die Phantasie, welche den
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