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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

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haben doch die etwas lyrische Rede für das Trauerspiel p2c_643.002
beybehalten. - Die figurirte Sprache, welche bey p2c_643.003
dem Heldengedicht nicht statt hat, findet sich im Trauerspiel, p2c_643.004
besonders die heftigen, starken, leidenschaftlichen Figuren. p2c_643.005
Antithesen, Metaphern, Aufhäufungen, zuweilen p2c_643.006
Sentenzen, nur muß keine übertrieben werden. Die Sentenz p2c_643.007
paßt für das Trauerspiel, weil die Personen der erhabenen p2c_643.008
Handlung selbst im Momente der Leidenschaft p2c_643.009
des Schreckens einen gewissen Blick auf das Ganze und p2c_643.010
Allgemeine behalten müssen. So macht die Sophocleische p2c_643.011
Sentenz immer Eindruck, z. B. Antigone 523. p2c_643.012
Oedip. Colon
. 607. - - Allein Euripides liebt schon p2c_643.013
mehr die philosophische Sentenz, wie sie bey Streitigkeiten p2c_643.014
in der sokratischen Schule statt hatte. Diese ist bey p2c_643.015
der Handlung unnatürlich. Die Franzosen pflegen auch zu p2c_643.016
viel allgemeine Maximen aufs Theater zu bringen, damit p2c_643.017
der Zuhörer etwas zu merken habe. Die Antithese paßt p2c_643.018
wo Kampf und Streit ist, weil sie einen Contrast gut darstellt. p2c_643.019
So braucht sie Sophocles, z. B. Antigone vs. 88. p2c_643.020
Bey den französischen Tragikern ist sie aber oft müßiges p2c_643.021
Verstandesspiel. Die Metapher, die vergleichende Zusammenstellung p2c_643.022
ist in Scenen, die Gehalt haben, dem Tragiker p2c_643.023
ganz natürlich. Denn der leidenschaftliche Mensch p2c_643.024
gebraucht die ganze ihn umgebende Natur als Sinnbild p2c_643.025
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er in der Hand hat. Wenn Lady Makbeth sagt: scheine die p2c_643.028
Blume, und sey wie die Schlange darunter. So kann das

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haben doch die etwas lyrische Rede für das Trauerspiel p2c_643.002
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 643. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/167>, abgerufen am 05.05.2024.