Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p2c_623.001
natürlich ermüden würde. Hieraus kann man nun zwar p2c_623.002
nicht folgern, daß die Handlung selbst wie im Oedipus, p2c_623.003
in den Horaziern u. s. w. nicht über diese Zeit hinaus währen p2c_623.004
dürfe. Das wäre die Regel der Wahrscheinlichkeit zu p2c_623.005
weit getrieben. Ueberdem kann angenommen werden, daß p2c_623.006
einige Zeit in den Zwischenakten verfließe. Die ideale p2c_623.007
Zeit, die in der wirklichen vorgestellt wird, kann also etwas p2c_623.008
länger seyn. Voltaire verstattet etwa vier und zwanzig p2c_623.009
Stunden. Corneille ist hierin auch sehr streng, und sie haben p2c_623.010
nicht unrecht. Die Tragödie ist ein concentrirtes Kunstwerk. p2c_623.011
Selbst bey der Epopöe war die Kürze der Zeit ein p2c_623.012
Vorzug, geschweige denn bey der Tragödie. Je kürzer die p2c_623.013
Zeit ist, desto mehr gewinnt die Handlung an individueller p2c_623.014
Anschaulichkeit und Einfachheit. Shakespear läßt einmal p2c_623.015
die Zeit als Chorus auftreten und erzählen, daß während p2c_623.016
dem Akt sechzehn Jahre verflossen seyn. Dies ist witzig, p2c_623.017
und paßt für das romantische dramatische Gedicht. Aber p2c_623.018
nicht für das eigentliche ernste Drama. Das Lustspiel kann p2c_623.019
eher wider diese Regeln handeln. Allein bey der Tragödie p2c_623.020
muß alles vermieden werden, wodurch der Verstand beleidigt, p2c_623.021
und nächstdem die Empfindung gestöhrt werden könnte. p2c_623.022
2) Was den Ort betrifft, so trägt seine Einheit allerdings p2c_623.023
auch zur einfachen Faßlichkeit des Plans bey. Denn p2c_623.024
man kann aus der Decoration allein noch nicht gleich die p2c_623.025
geographische Veränderung merken, die mit Verwandlung p2c_623.026
der Szene vorgegangen ist. Wenn Shakespear seine Personen p2c_623.027
bald in Schottland, bald in England auftreten läßt, p2c_623.028
so ist das immer eine Freyheit, welche hätte vermieden werden

p2c_623.001
natürlich ermüden würde. Hieraus kann man nun zwar p2c_623.002
nicht folgern, daß die Handlung selbst wie im Oedipus, p2c_623.003
in den Horaziern u. s. w. nicht über diese Zeit hinaus währen p2c_623.004
dürfe. Das wäre die Regel der Wahrscheinlichkeit zu p2c_623.005
weit getrieben. Ueberdem kann angenommen werden, daß p2c_623.006
einige Zeit in den Zwischenakten verfließe. Die ideale p2c_623.007
Zeit, die in der wirklichen vorgestellt wird, kann also etwas p2c_623.008
länger seyn. Voltaire verstattet etwa vier und zwanzig p2c_623.009
Stunden. Corneille ist hierin auch sehr streng, und sie haben p2c_623.010
nicht unrecht. Die Tragödie ist ein concentrirtes Kunstwerk. p2c_623.011
Selbst bey der Epopöe war die Kürze der Zeit ein p2c_623.012
Vorzug, geschweige denn bey der Tragödie. Je kürzer die p2c_623.013
Zeit ist, desto mehr gewinnt die Handlung an individueller p2c_623.014
Anschaulichkeit und Einfachheit. Shakespear läßt einmal p2c_623.015
die Zeit als Chorus auftreten und erzählen, daß während p2c_623.016
dem Akt sechzehn Jahre verflossen seyn. Dies ist witzig, p2c_623.017
und paßt für das romantische dramatische Gedicht. Aber p2c_623.018
nicht für das eigentliche ernste Drama. Das Lustspiel kann p2c_623.019
eher wider diese Regeln handeln. Allein bey der Tragödie p2c_623.020
muß alles vermieden werden, wodurch der Verstand beleidigt, p2c_623.021
und nächstdem die Empfindung gestöhrt werden könnte. p2c_623.022
2) Was den Ort betrifft, so trägt seine Einheit allerdings p2c_623.023
auch zur einfachen Faßlichkeit des Plans bey. Denn p2c_623.024
man kann aus der Decoration allein noch nicht gleich die p2c_623.025
geographische Veränderung merken, die mit Verwandlung p2c_623.026
der Szene vorgegangen ist. Wenn Shakespear seine Personen p2c_623.027
bald in Schottland, bald in England auftreten läßt, p2c_623.028
so ist das immer eine Freyheit, welche hätte vermieden werden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0147" n="623"/><lb n="p2c_623.001"/>
natürlich ermüden würde. Hieraus kann man nun zwar <lb n="p2c_623.002"/>
nicht folgern, daß die <hi rendition="#g">Handlung</hi> selbst wie im Oedipus, <lb n="p2c_623.003"/>
in den Horaziern u. s. w. nicht über diese Zeit hinaus währen <lb n="p2c_623.004"/>
dürfe. Das wäre die Regel der Wahrscheinlichkeit zu <lb n="p2c_623.005"/>
weit getrieben. Ueberdem kann angenommen werden, daß <lb n="p2c_623.006"/>
einige Zeit in den Zwischenakten verfließe. Die <hi rendition="#g">ideale</hi> <lb n="p2c_623.007"/>
Zeit, die in der wirklichen vorgestellt wird, kann also etwas <lb n="p2c_623.008"/>
länger seyn. Voltaire verstattet etwa vier und zwanzig <lb n="p2c_623.009"/>
Stunden. Corneille ist hierin auch sehr streng, und sie haben <lb n="p2c_623.010"/>
nicht unrecht. Die Tragödie ist ein concentrirtes Kunstwerk. <lb n="p2c_623.011"/>
Selbst bey der Epopöe war die Kürze der Zeit ein <lb n="p2c_623.012"/>
Vorzug, geschweige denn bey der Tragödie. Je kürzer die <lb n="p2c_623.013"/>
Zeit ist, desto mehr gewinnt die Handlung an individueller <lb n="p2c_623.014"/>
Anschaulichkeit und Einfachheit. Shakespear läßt einmal <lb n="p2c_623.015"/>
die Zeit als Chorus auftreten und erzählen, daß während <lb n="p2c_623.016"/>
dem Akt sechzehn Jahre verflossen seyn. Dies ist witzig, <lb n="p2c_623.017"/>
und paßt für das romantische dramatische Gedicht. Aber <lb n="p2c_623.018"/>
nicht für das eigentliche ernste Drama. Das Lustspiel kann <lb n="p2c_623.019"/>
eher wider diese Regeln handeln. Allein bey der Tragödie <lb n="p2c_623.020"/>
muß alles vermieden werden, wodurch der Verstand beleidigt, <lb n="p2c_623.021"/>
und nächstdem die Empfindung gestöhrt werden könnte. <lb n="p2c_623.022"/>
2) Was den <hi rendition="#g">Ort</hi> betrifft, so trägt seine <hi rendition="#g">Einheit</hi> allerdings <lb n="p2c_623.023"/>
auch zur einfachen Faßlichkeit des Plans bey. Denn <lb n="p2c_623.024"/>
man kann aus der Decoration allein noch nicht gleich die <lb n="p2c_623.025"/>
geographische Veränderung merken, die mit Verwandlung <lb n="p2c_623.026"/>
der Szene vorgegangen ist. Wenn Shakespear seine Personen <lb n="p2c_623.027"/>
bald in Schottland, bald in England auftreten läßt,     <lb n="p2c_623.028"/>
so ist das immer eine Freyheit, welche hätte vermieden werden
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[623/0147] p2c_623.001 natürlich ermüden würde. Hieraus kann man nun zwar p2c_623.002 nicht folgern, daß die Handlung selbst wie im Oedipus, p2c_623.003 in den Horaziern u. s. w. nicht über diese Zeit hinaus währen p2c_623.004 dürfe. Das wäre die Regel der Wahrscheinlichkeit zu p2c_623.005 weit getrieben. Ueberdem kann angenommen werden, daß p2c_623.006 einige Zeit in den Zwischenakten verfließe. Die ideale p2c_623.007 Zeit, die in der wirklichen vorgestellt wird, kann also etwas p2c_623.008 länger seyn. Voltaire verstattet etwa vier und zwanzig p2c_623.009 Stunden. Corneille ist hierin auch sehr streng, und sie haben p2c_623.010 nicht unrecht. Die Tragödie ist ein concentrirtes Kunstwerk. p2c_623.011 Selbst bey der Epopöe war die Kürze der Zeit ein p2c_623.012 Vorzug, geschweige denn bey der Tragödie. Je kürzer die p2c_623.013 Zeit ist, desto mehr gewinnt die Handlung an individueller p2c_623.014 Anschaulichkeit und Einfachheit. Shakespear läßt einmal p2c_623.015 die Zeit als Chorus auftreten und erzählen, daß während p2c_623.016 dem Akt sechzehn Jahre verflossen seyn. Dies ist witzig, p2c_623.017 und paßt für das romantische dramatische Gedicht. Aber p2c_623.018 nicht für das eigentliche ernste Drama. Das Lustspiel kann p2c_623.019 eher wider diese Regeln handeln. Allein bey der Tragödie p2c_623.020 muß alles vermieden werden, wodurch der Verstand beleidigt, p2c_623.021 und nächstdem die Empfindung gestöhrt werden könnte. p2c_623.022 2) Was den Ort betrifft, so trägt seine Einheit allerdings p2c_623.023 auch zur einfachen Faßlichkeit des Plans bey. Denn p2c_623.024 man kann aus der Decoration allein noch nicht gleich die p2c_623.025 geographische Veränderung merken, die mit Verwandlung p2c_623.026 der Szene vorgegangen ist. Wenn Shakespear seine Personen p2c_623.027 bald in Schottland, bald in England auftreten läßt, p2c_623.028 so ist das immer eine Freyheit, welche hätte vermieden werden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/147
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 623. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/147>, abgerufen am 22.11.2024.