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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

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Anmerk. Da der Stoff 1) eine große Begebenheit p2c_603.002
in der Geschichte ist, so muß der Dichter p2c_603.003
dieselbe uns wichtig zu machen wissen, indem er ihre ausgebreiteten p2c_603.004
Folgen zeigt. Daher läßt Virgil den Aeneas immer p2c_603.005
als Vater der Römer auftreten. Gleich anfangs giebt p2c_603.006
er den Zweck seiner Reisen an tantae molis erat, Romanam p2c_603.007
condere gentem
. Aeneas steigt in die Unterwelt, p2c_603.008
um seine Nachkommenschaft zu sehn. Die Episode ist nicht p2c_603.009
überflüssig. Homer giebt den Zorn des Achills an, als eine p2c_603.010
Begebenheit von sehr wichtigem Einfluß e muri Akhaiois alge p2c_603.011
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Sittengemälde und Reiseabentheuer. Man könnte sie wegen p2c_603.013
ihrer Naivität eine heroische Jdylle nennen. Allein p2c_603.014
sie steht doch mit der Begebenheit des trojanischen Kriegs p2c_603.015
in einem genauen Zusammenhang, das Schicksal des Odysseus p2c_603.016
ist an das seines Vaterlands geknüpft. Die Götter p2c_603.017
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Dichter bedarf dazu eines weiten Schauplatzes, den er mit p2c_603.020
großen und kleinen Gegenständen der Natur decorirt. Seine p2c_603.021
Beschreibungen, seine Gleichnisse müssen dazu beytragen, p2c_603.022
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impresa di pigliar a garbo descriver al fondo tutto p2c_603.026
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. Daher äußern die epischen Dichter auch oft, p2c_603.027
daß sie der Beschreibung ihres Gegenstandes unterliegen. p2c_603.028
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/127>, abgerufen am 02.05.2024.