Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.v. d. historischen Wahrscheinlichkeit. zwey solche Personen zusammen kommen; wie ist esmöglich, daß sie einander ihre Gründe der Wahr- scheinlichkeit begreifflich machen? Denn wenn gleich jeder allenfalls anzeigt, daß er es aus der ei- genen Erfahrung wisse, so begreifft doch der an- dere das Vertrauen aus dieser Erzehlung nicht, welches der erstere auf seine Erfahrung setzet: und so auf dem andern Theile auch. Sie bleiben also uneins, wo man nicht gar sehr zu abstrahiren, und sich in die Umstände einer andern Seele zu setzen ge- lernet hat; welches doch schon in theoretischen, ge- schweige in pracktischen Dingen überaus schwehr ist. Was aber die Liebe und Lust an einer Sache, so gar nur bey einem Geschichtschreiber, geschweige bey Dingen, die uns näher angehen, ausrichten kan; können wir auch aus dem angeführten Exem- pel des Vertot sehen. (§. 2.) Dieser macht sich ein groß Bedencken, ob auch die Rhodiserritter dem türckischen Printzen einen Salvum conductum gegeben hätten, darum, weil die Ritter den Sal- vum conductum nachher müsten violirt, und sich also gar sehr an den Gesetzen der Treue versündiget haben. Weil die Folgen des Salvi conductus un- gerecht seyn würden; so schlüsset er daraus, wi- der die Existentz des Salvi conductus. (§. 9.) Al- lein würde wohl ein anderer, der bey dieser Sache gantz und gar fremde wäre, sich im geringsten dar- an irren lassen, eine Sache zu glauben, darum, weil sie zur Ungerechtigkeit nachher Gelegenheit müste gegeben haben? Man weiß ja, daß nicht allein Dinge, die zur Ungerechtigkeit nach und nach verleitet, sondern unzehlige himmelschreyende Unge- Y
v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit. zwey ſolche Perſonen zuſammen kommen; wie iſt esmoͤglich, daß ſie einander ihre Gruͤnde der Wahr- ſcheinlichkeit begreifflich machen? Denn wenn gleich jeder allenfalls anzeigt, daß er es aus der ei- genen Erfahrung wiſſe, ſo begreifft doch der an- dere das Vertrauen aus dieſer Erzehlung nicht, welches der erſtere auf ſeine Erfahrung ſetzet: und ſo auf dem andern Theile auch. Sie bleiben alſo uneins, wo man nicht gar ſehr zu abſtrahiren, und ſich in die Umſtaͤnde einer andern Seele zu ſetzen ge- lernet hat; welches doch ſchon in theoretiſchen, ge- ſchweige in pracktiſchen Dingen uͤberaus ſchwehr iſt. Was aber die Liebe und Luſt an einer Sache, ſo gar nur bey einem Geſchichtſchreiber, geſchweige bey Dingen, die uns naͤher angehen, ausrichten kan; koͤnnen wir auch aus dem angefuͤhrten Exem- pel des Vertot ſehen. (§. 2.) Dieſer macht ſich ein groß Bedencken, ob auch die Rhodiſerritter dem tuͤrckiſchen Printzen einen Salvum conductum gegeben haͤtten, darum, weil die Ritter den Sal- vum conductum nachher muͤſten violirt, und ſich alſo gar ſehr an den Geſetzen der Treue verſuͤndiget haben. Weil die Folgen des Salvi conductus un- gerecht ſeyn wuͤrden; ſo ſchluͤſſet er daraus, wi- der die Exiſtentz des Salvi conductus. (§. 9.) Al- lein wuͤrde wohl ein anderer, der bey dieſer Sache gantz und gar fremde waͤre, ſich im geringſten dar- an irren laſſen, eine Sache zu glauben, darum, weil ſie zur Ungerechtigkeit nachher Gelegenheit muͤſte gegeben haben? Man weiß ja, daß nicht allein Dinge, die zur Ungerechtigkeit nach und nach verleitet, ſondern unzehlige himmelſchreyende Unge- Y
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0373" n="337"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.</hi></fw><lb/> zwey ſolche Perſonen zuſammen kommen; wie iſt es<lb/> moͤglich, daß ſie einander ihre Gruͤnde der Wahr-<lb/> ſcheinlichkeit begreifflich machen? Denn wenn<lb/> gleich jeder allenfalls anzeigt, daß er es aus der <hi rendition="#fr">ei-<lb/> genen</hi> Erfahrung wiſſe, ſo begreifft doch der an-<lb/> dere das <hi rendition="#fr">Vertrauen</hi> aus dieſer Erzehlung nicht,<lb/> welches der erſtere auf ſeine Erfahrung ſetzet: und<lb/> ſo auf dem andern Theile auch. Sie bleiben alſo<lb/> uneins, wo man nicht gar ſehr zu abſtrahiren, und<lb/> ſich in die Umſtaͤnde einer andern Seele zu ſetzen ge-<lb/> lernet hat; welches doch ſchon in theoretiſchen, ge-<lb/> ſchweige in pracktiſchen Dingen uͤberaus ſchwehr iſt.<lb/> Was aber die <hi rendition="#fr">Liebe</hi> und <hi rendition="#fr">Luſt</hi> an einer Sache, ſo<lb/> gar nur bey einem Geſchichtſchreiber, geſchweige<lb/> bey Dingen, die uns naͤher angehen, ausrichten<lb/> kan; koͤnnen wir auch aus dem angefuͤhrten Exem-<lb/> pel des <hi rendition="#aq">Vertot</hi> ſehen. (§. 2.) Dieſer macht ſich<lb/> ein groß Bedencken, ob auch die Rhodiſerritter<lb/> dem tuͤrckiſchen Printzen einen <hi rendition="#aq">Salvum conductum</hi><lb/> gegeben haͤtten, darum, weil die Ritter den <hi rendition="#aq">Sal-<lb/> vum conductum</hi> nachher muͤſten violirt, und ſich<lb/> alſo gar ſehr an den Geſetzen der <hi rendition="#fr">Treue</hi> verſuͤndiget<lb/> haben. Weil die <hi rendition="#fr">Folgen</hi> des <hi rendition="#aq">Salvi conductus</hi> un-<lb/> gerecht ſeyn wuͤrden; ſo ſchluͤſſet er daraus, <hi rendition="#fr">wi-<lb/> der</hi> die Exiſtentz des <hi rendition="#aq">Salvi conductus.</hi> (§. 9.) Al-<lb/> lein wuͤrde wohl ein anderer, der bey dieſer Sache<lb/> gantz und gar fremde waͤre, ſich im geringſten dar-<lb/> an irren laſſen, eine <hi rendition="#fr">Sache</hi> zu glauben, darum,<lb/> weil ſie zur Ungerechtigkeit nachher Gelegenheit<lb/> muͤſte gegeben haben? Man weiß ja, daß nicht<lb/> allein Dinge, die zur Ungerechtigkeit nach und<lb/> nach verleitet, ſondern unzehlige himmelſchreyende<lb/> <fw place="bottom" type="sig">Y</fw><fw place="bottom" type="catch">Unge-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [337/0373]
v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
zwey ſolche Perſonen zuſammen kommen; wie iſt es
moͤglich, daß ſie einander ihre Gruͤnde der Wahr-
ſcheinlichkeit begreifflich machen? Denn wenn
gleich jeder allenfalls anzeigt, daß er es aus der ei-
genen Erfahrung wiſſe, ſo begreifft doch der an-
dere das Vertrauen aus dieſer Erzehlung nicht,
welches der erſtere auf ſeine Erfahrung ſetzet: und
ſo auf dem andern Theile auch. Sie bleiben alſo
uneins, wo man nicht gar ſehr zu abſtrahiren, und
ſich in die Umſtaͤnde einer andern Seele zu ſetzen ge-
lernet hat; welches doch ſchon in theoretiſchen, ge-
ſchweige in pracktiſchen Dingen uͤberaus ſchwehr iſt.
Was aber die Liebe und Luſt an einer Sache, ſo
gar nur bey einem Geſchichtſchreiber, geſchweige
bey Dingen, die uns naͤher angehen, ausrichten
kan; koͤnnen wir auch aus dem angefuͤhrten Exem-
pel des Vertot ſehen. (§. 2.) Dieſer macht ſich
ein groß Bedencken, ob auch die Rhodiſerritter
dem tuͤrckiſchen Printzen einen Salvum conductum
gegeben haͤtten, darum, weil die Ritter den Sal-
vum conductum nachher muͤſten violirt, und ſich
alſo gar ſehr an den Geſetzen der Treue verſuͤndiget
haben. Weil die Folgen des Salvi conductus un-
gerecht ſeyn wuͤrden; ſo ſchluͤſſet er daraus, wi-
der die Exiſtentz des Salvi conductus. (§. 9.) Al-
lein wuͤrde wohl ein anderer, der bey dieſer Sache
gantz und gar fremde waͤre, ſich im geringſten dar-
an irren laſſen, eine Sache zu glauben, darum,
weil ſie zur Ungerechtigkeit nachher Gelegenheit
muͤſte gegeben haben? Man weiß ja, daß nicht
allein Dinge, die zur Ungerechtigkeit nach und
nach verleitet, ſondern unzehlige himmelſchreyende
Unge-
Y
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |