Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.Zehendes Capitel, theil, welches mehr Grade der Wahrheit vor sichhat, als das gegenseitige Urtheil. Man hat diese Erklärung auch auf die historischen Dinge applici- ren wollen; wo sie aber gar nicht brauchbar ist: ob- gleich einem guten Theile unserer historischen Er- kentniß die Wahrscheinlichkeit selbst nicht abzuspre- chen ist. Man weiß nehmlich, daß Dinge, die ab- gezehlet und zusammen gerechnet werden sollen, in- nerlich einerley Qualitäten haben müssen: daß die Einheiten, woraus die Summe entstehen soll, von einerley Werthe seyn müssen. Dieses aber ist bey dem historischen Zweiffel und der historischen Wahrscheinlichkeit nicht zu erhalten. Es sey der Fall: eine Begebenheit soll sechs Zuschauer ge- habt haben. Einer sagt dies, die andern fünffe das Gegentheil aus; so würde jedermann die Aus- sage der meisten vor sehr wahrscheinlich halten. Dar- zu aber wäre nöthig, daß sie auch alle 6. einerley Ansehen hätten; und das wird sich nicht leicht zu- tragen. Schlechtweg aber kan man aus einer grössern Anzahl Aussager keine Wahrscheinlichkeit machen, wo die Anzahl der Zuschauer nicht be- stimmt ist: denn entweder wird der, dem es an Zeu- gen fehlet, noch mehrere herbey schaffen: oder wo- ferne andere Hindernisse darzwischen kommen, daß er sie nicht herbey bringen kan, so kan ja solches der Wahrheit der Sache selbst keinen Nachtheil verur- sachen. §. 12.
Zehendes Capitel, theil, welches mehr Grade der Wahrheit vor ſichhat, als das gegenſeitige Urtheil. Man hat dieſe Erklaͤrung auch auf die hiſtoriſchen Dinge applici- ren wollen; wo ſie aber gar nicht brauchbar iſt: ob- gleich einem guten Theile unſerer hiſtoriſchen Er- kentniß die Wahrſcheinlichkeit ſelbſt nicht abzuſpre- chen iſt. Man weiß nehmlich, daß Dinge, die ab- gezehlet und zuſammen gerechnet werden ſollen, in- nerlich einerley Qualitaͤten haben muͤſſen: daß die Einheiten, woraus die Summe entſtehen ſoll, von einerley Werthe ſeyn muͤſſen. Dieſes aber iſt bey dem hiſtoriſchen Zweiffel und der hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit nicht zu erhalten. Es ſey der Fall: eine Begebenheit ſoll ſechs Zuſchauer ge- habt haben. Einer ſagt dies, die andern fuͤnffe das Gegentheil aus; ſo wuͤrde jedermann die Aus- ſage der meiſten vor ſehr wahrſcheinlich halten. Dar- zu aber waͤre noͤthig, daß ſie auch alle 6. einerley Anſehen haͤtten; und das wird ſich nicht leicht zu- tragen. Schlechtweg aber kan man aus einer groͤſſern Anzahl Ausſager keine Wahrſcheinlichkeit machen, wo die Anzahl der Zuſchauer nicht be- ſtimmt iſt: denn entweder wird der, dem es an Zeu- gen fehlet, noch mehrere herbey ſchaffen: oder wo- ferne andere Hinderniſſe darzwiſchen kommen, daß er ſie nicht herbey bringen kan, ſo kan ja ſolches der Wahrheit der Sache ſelbſt keinen Nachtheil verur- ſachen. §. 12.
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Zehendes Capitel,
theil, welches mehr Grade der Wahrheit vor ſich
hat, als das gegenſeitige Urtheil. Man hat dieſe
Erklaͤrung auch auf die hiſtoriſchen Dinge applici-
ren wollen; wo ſie aber gar nicht brauchbar iſt: ob-
gleich einem guten Theile unſerer hiſtoriſchen Er-
kentniß die Wahrſcheinlichkeit ſelbſt nicht abzuſpre-
chen iſt. Man weiß nehmlich, daß Dinge, die ab-
gezehlet und zuſammen gerechnet werden ſollen, in-
nerlich einerley Qualitaͤten haben muͤſſen: daß die
Einheiten, woraus die Summe entſtehen ſoll,
von einerley Werthe ſeyn muͤſſen. Dieſes aber iſt
bey dem hiſtoriſchen Zweiffel und der hiſtoriſchen
Wahrſcheinlichkeit nicht zu erhalten. Es ſey der
Fall: eine Begebenheit ſoll ſechs Zuſchauer ge-
habt haben. Einer ſagt dies, die andern fuͤnffe
das Gegentheil aus; ſo wuͤrde jedermann die Aus-
ſage der meiſten vor ſehr wahrſcheinlich halten. Dar-
zu aber waͤre noͤthig, daß ſie auch alle 6. einerley
Anſehen haͤtten; und das wird ſich nicht leicht zu-
tragen. Schlechtweg aber kan man aus einer
groͤſſern Anzahl Ausſager keine Wahrſcheinlichkeit
machen, wo die Anzahl der Zuſchauer nicht be-
ſtimmt iſt: denn entweder wird der, dem es an Zeu-
gen fehlet, noch mehrere herbey ſchaffen: oder wo-
ferne andere Hinderniſſe darzwiſchen kommen, daß
er ſie nicht herbey bringen kan, ſo kan ja ſolches der
Wahrheit der Sache ſelbſt keinen Nachtheil verur-
ſachen.
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Zitationshilfe: | Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/368>, abgerufen am 18.07.2024. |