Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehendes Capitel,
durchfahren sehen, und macht daraus nicht ohne
Grund den locum communem: man könne bey so
hohem Wasser durchfahren. Die andern aber,
welche gedencken, daß dem vorhandenen Reisenden
der locus communis nichts hilfft; sondern die
Nachricht, ob er mit seinem Wagen und Gespann
durchkommen kan, antworten ihm aus diesem Se-
hepuncte mit Nein! weil sie wahrnehmen, daß
mit einem so kleinen und niedrigen Wagen nicht
durchzufahren ist: Tausenderley Widersprüche im
Erzehlen und Aussagen entstehen in der Welt dar-
aus, daß einer die Sache anders ansiehet,
als der andere.
Darauf ist also 4. zu sehen, wenn
man durch widersprechende Aussagen und Nach-
richten in seinem Sinne irre gemacht wird: daß
man nehmlich erforschet, ob auch beyde Aussager
die Sache auf einerley Seite und auf einerley
Weise
ansehen?

§. 7.
Fünffter Versuch bey widersprechenden
Aussagen.

Wenn aber alle diese Mittel die wider einander
lauffenden Aussagen mit einander zu vereinigen
wegfallen, und sie also würcklich einander wider-
sprechen, so muß des einen seine Aussage die Un-
wahrheit seyn. Die Frage ist nun, wie weiter zu
erforschen, auf welcher Seite die Unwahrheit ge-
sagt worden sey. Weil wir nun annehmen, daß
beyde Aussager Zuschauer gewesen, (§. 4.) und
daß sie die Sache nicht bloß auf verschiedene und nur
dem Scheine nach widersprechende Art erzehlet,
(§. 5.) noch aus einem verschiedenen Sehepun-

cte

Zehendes Capitel,
durchfahren ſehen, und macht daraus nicht ohne
Grund den locum communem: man koͤnne bey ſo
hohem Waſſer durchfahren. Die andern aber,
welche gedencken, daß dem vorhandenen Reiſenden
der locus communis nichts hilfft; ſondern die
Nachricht, ob er mit ſeinem Wagen und Geſpann
durchkommen kan, antworten ihm aus dieſem Se-
hepuncte mit Nein! weil ſie wahrnehmen, daß
mit einem ſo kleinen und niedrigen Wagen nicht
durchzufahren iſt: Tauſenderley Widerſpruͤche im
Erzehlen und Ausſagen entſtehen in der Welt dar-
aus, daß einer die Sache anders anſiehet,
als der andere.
Darauf iſt alſo 4. zu ſehen, wenn
man durch widerſprechende Ausſagen und Nach-
richten in ſeinem Sinne irre gemacht wird: daß
man nehmlich erforſchet, ob auch beyde Ausſager
die Sache auf einerley Seite und auf einerley
Weiſe
anſehen?

§. 7.
Fuͤnffter Verſuch bey widerſprechenden
Ausſagen.

Wenn aber alle dieſe Mittel die wider einander
lauffenden Ausſagen mit einander zu vereinigen
wegfallen, und ſie alſo wuͤrcklich einander wider-
ſprechen, ſo muß des einen ſeine Ausſage die Un-
wahrheit ſeyn. Die Frage iſt nun, wie weiter zu
erforſchen, auf welcher Seite die Unwahrheit ge-
ſagt worden ſey. Weil wir nun annehmen, daß
beyde Ausſager Zuſchauer geweſen, (§. 4.) und
daß ſie die Sache nicht bloß auf verſchiedene und nur
dem Scheine nach widerſprechende Art erzehlet,
(§. 5.) noch aus einem verſchiedenen Sehepun-

cte
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0362" n="326"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zehendes Capitel,</hi></fw><lb/>
durchfahren &#x017F;ehen, und macht daraus nicht ohne<lb/>
Grund den <hi rendition="#aq">locum communem:</hi> man ko&#x0364;nne bey &#x017F;o<lb/>
hohem Wa&#x017F;&#x017F;er durchfahren. Die andern aber,<lb/>
welche gedencken, daß dem vorhandenen Rei&#x017F;enden<lb/>
der <hi rendition="#aq">locus communis</hi> nichts hilfft; &#x017F;ondern die<lb/>
Nachricht, ob er mit <hi rendition="#fr">&#x017F;einem</hi> Wagen und Ge&#x017F;pann<lb/>
durchkommen kan, antworten ihm aus die&#x017F;em Se-<lb/>
hepuncte mit <hi rendition="#fr">Nein!</hi> weil &#x017F;ie wahrnehmen, daß<lb/>
mit einem &#x017F;o kleinen und niedrigen Wagen nicht<lb/>
durchzufahren i&#x017F;t: Tau&#x017F;enderley Wider&#x017F;pru&#x0364;che im<lb/>
Erzehlen und Aus&#x017F;agen ent&#x017F;tehen in der Welt dar-<lb/>
aus, daß <hi rendition="#fr">einer die Sache anders an&#x017F;iehet,<lb/>
als der andere.</hi> Darauf i&#x017F;t al&#x017F;o 4. zu &#x017F;ehen, wenn<lb/>
man durch wider&#x017F;prechende Aus&#x017F;agen und Nach-<lb/>
richten in &#x017F;einem Sinne irre gemacht wird: daß<lb/>
man nehmlich erfor&#x017F;chet, ob auch beyde Aus&#x017F;ager<lb/>
die Sache auf <hi rendition="#fr">einerley Seite</hi> und auf <hi rendition="#fr">einerley<lb/>
Wei&#x017F;e</hi> an&#x017F;ehen?</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 7.<lb/>
Fu&#x0364;nffter Ver&#x017F;uch bey wider&#x017F;prechenden<lb/>
Aus&#x017F;agen.</head><lb/>
          <p>Wenn aber alle die&#x017F;e Mittel die wider einander<lb/>
lauffenden Aus&#x017F;agen mit einander zu vereinigen<lb/>
wegfallen, und &#x017F;ie al&#x017F;o <hi rendition="#fr">wu&#x0364;rcklich</hi> einander wider-<lb/>
&#x017F;prechen, &#x017F;o muß des einen &#x017F;eine Aus&#x017F;age die Un-<lb/>
wahrheit &#x017F;eyn. Die Frage i&#x017F;t nun, wie weiter zu<lb/>
erfor&#x017F;chen, auf welcher Seite die Unwahrheit ge-<lb/>
&#x017F;agt worden &#x017F;ey. Weil wir nun annehmen, daß<lb/>
beyde Aus&#x017F;ager Zu&#x017F;chauer gewe&#x017F;en, (§. 4.) und<lb/>
daß &#x017F;ie die Sache nicht bloß auf ver&#x017F;chiedene und nur<lb/>
dem Scheine nach wider&#x017F;prechende Art erzehlet,<lb/>
(§. 5.) noch aus einem ver&#x017F;chiedenen Sehepun-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">cte</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[326/0362] Zehendes Capitel, durchfahren ſehen, und macht daraus nicht ohne Grund den locum communem: man koͤnne bey ſo hohem Waſſer durchfahren. Die andern aber, welche gedencken, daß dem vorhandenen Reiſenden der locus communis nichts hilfft; ſondern die Nachricht, ob er mit ſeinem Wagen und Geſpann durchkommen kan, antworten ihm aus dieſem Se- hepuncte mit Nein! weil ſie wahrnehmen, daß mit einem ſo kleinen und niedrigen Wagen nicht durchzufahren iſt: Tauſenderley Widerſpruͤche im Erzehlen und Ausſagen entſtehen in der Welt dar- aus, daß einer die Sache anders anſiehet, als der andere. Darauf iſt alſo 4. zu ſehen, wenn man durch widerſprechende Ausſagen und Nach- richten in ſeinem Sinne irre gemacht wird: daß man nehmlich erforſchet, ob auch beyde Ausſager die Sache auf einerley Seite und auf einerley Weiſe anſehen? §. 7. Fuͤnffter Verſuch bey widerſprechenden Ausſagen. Wenn aber alle dieſe Mittel die wider einander lauffenden Ausſagen mit einander zu vereinigen wegfallen, und ſie alſo wuͤrcklich einander wider- ſprechen, ſo muß des einen ſeine Ausſage die Un- wahrheit ſeyn. Die Frage iſt nun, wie weiter zu erforſchen, auf welcher Seite die Unwahrheit ge- ſagt worden ſey. Weil wir nun annehmen, daß beyde Ausſager Zuſchauer geweſen, (§. 4.) und daß ſie die Sache nicht bloß auf verſchiedene und nur dem Scheine nach widerſprechende Art erzehlet, (§. 5.) noch aus einem verſchiedenen Sehepun- cte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/362
Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/362>, abgerufen am 24.11.2024.