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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

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Neuntes Capitel,
§. 2.
Gemeine Gedenckart von der Gewißheit.

Wenn man nun darauf mercket, wie? und
wo? man im gemeinen Leben, das Wort: Ge-
wißheit
brauche, so werden wir wahrnehmen,
1. daß wir aller Erkentniß, die wir durch die Sin-
ne erhalten haben, oder unsern Empfindungen eine
Gewißheit beylegen: 2. Daß wir auch sehr vielen
Erfahrungen eine Gewißheit beylegen. Daß es
nicht bey allen geschiehet, kommt daher, weil sich
manche Arten der sogenannten Erfahrungen, aus
wenigen, ja auch nur aus einem einigen Exempel
unwidersprechlich herleiten lassen: Dergleichen die-
jenigen sind, wo man nur die Möglichkeit ei-
ner Sache a posteriori behauptet: Als daß ein
Mensch hundert Jahr alt werden könne: Daß
Eisen durch gefroren Wasser kan zersprenget wer-
den, nach der bekannten metaphysischen Regel:
Ab esse ad posse valet consequentia. Wenn man
aber aus eintzeln Fällen und Exempeln solche all-
gemeine Regeln machen will, die sich auch auf
neue Fälle untrüglich wieder sollen appliciren las-
sen, als daß gewisse Artzneyen, gewisse Kranckhei-
ten allemahl vertreiben sollen, da weiß jeder, daß
es mit solchen Erfahrungen und ihrer Gewißheit
grosse Schwierigkeit habe. 3. Legen wir auch
solchen Dingen eine Gewißheit bey, iedoch nicht
allein, welche wir bloß aus Nachrichten und Aus-
sagen oder Berichten erkannt haben. Denn so
zweifelt man gemeiniglich an dem Absterben sei-
ner Eltern, oder Geschwister nicht: Ob man gleich

nicht
Neuntes Capitel,
§. 2.
Gemeine Gedenckart von der Gewißheit.

Wenn man nun darauf mercket, wie? und
wo? man im gemeinen Leben, das Wort: Ge-
wißheit
brauche, ſo werden wir wahrnehmen,
1. daß wir aller Erkentniß, die wir durch die Sin-
ne erhalten haben, oder unſern Empfindungen eine
Gewißheit beylegen: 2. Daß wir auch ſehr vielen
Erfahrungen eine Gewißheit beylegen. Daß es
nicht bey allen geſchiehet, kommt daher, weil ſich
manche Arten der ſogenannten Erfahrungen, aus
wenigen, ja auch nur aus einem einigen Exempel
unwiderſprechlich herleiten laſſen: Dergleichen die-
jenigen ſind, wo man nur die Moͤglichkeit ei-
ner Sache a poſteriori behauptet: Als daß ein
Menſch hundert Jahr alt werden koͤnne: Daß
Eiſen durch gefroren Waſſer kan zerſprenget wer-
den, nach der bekannten metaphyſiſchen Regel:
Ab eſſe ad poſſe valet conſequentia. Wenn man
aber aus eintzeln Faͤllen und Exempeln ſolche all-
gemeine Regeln machen will, die ſich auch auf
neue Faͤlle untruͤglich wieder ſollen appliciren laſ-
ſen, als daß gewiſſe Artzneyen, gewiſſe Kranckhei-
ten allemahl vertreiben ſollen, da weiß jeder, daß
es mit ſolchen Erfahrungen und ihrer Gewißheit
groſſe Schwierigkeit habe. 3. Legen wir auch
ſolchen Dingen eine Gewißheit bey, iedoch nicht
allein, welche wir bloß aus Nachrichten und Aus-
ſagen oder Berichten erkannt haben. Denn ſo
zweifelt man gemeiniglich an dem Abſterben ſei-
ner Eltern, oder Geſchwiſter nicht: Ob man gleich

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[282/0318] Neuntes Capitel, §. 2. Gemeine Gedenckart von der Gewißheit. Wenn man nun darauf mercket, wie? und wo? man im gemeinen Leben, das Wort: Ge- wißheit brauche, ſo werden wir wahrnehmen, 1. daß wir aller Erkentniß, die wir durch die Sin- ne erhalten haben, oder unſern Empfindungen eine Gewißheit beylegen: 2. Daß wir auch ſehr vielen Erfahrungen eine Gewißheit beylegen. Daß es nicht bey allen geſchiehet, kommt daher, weil ſich manche Arten der ſogenannten Erfahrungen, aus wenigen, ja auch nur aus einem einigen Exempel unwiderſprechlich herleiten laſſen: Dergleichen die- jenigen ſind, wo man nur die Moͤglichkeit ei- ner Sache a poſteriori behauptet: Als daß ein Menſch hundert Jahr alt werden koͤnne: Daß Eiſen durch gefroren Waſſer kan zerſprenget wer- den, nach der bekannten metaphyſiſchen Regel: Ab eſſe ad poſſe valet conſequentia. Wenn man aber aus eintzeln Faͤllen und Exempeln ſolche all- gemeine Regeln machen will, die ſich auch auf neue Faͤlle untruͤglich wieder ſollen appliciren laſ- ſen, als daß gewiſſe Artzneyen, gewiſſe Kranckhei- ten allemahl vertreiben ſollen, da weiß jeder, daß es mit ſolchen Erfahrungen und ihrer Gewißheit groſſe Schwierigkeit habe. 3. Legen wir auch ſolchen Dingen eine Gewißheit bey, iedoch nicht allein, welche wir bloß aus Nachrichten und Aus- ſagen oder Berichten erkannt haben. Denn ſo zweifelt man gemeiniglich an dem Abſterben ſei- ner Eltern, oder Geſchwiſter nicht: Ob man gleich nicht

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Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/318>, abgerufen am 22.11.2024.