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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

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Vorrede.

Schon bey meinen philosophischen Vorle-
sungen auf der Universität Wittenberg, beson-
ders über die Vernunftlehre, ist mir bey öfte-
rer Wiederholung derselben vorgekommen, als
wenn die gegenwärtige Einrichtung dieser
vortrefflichen Wissenschaft so beschaffen wäre,
daß, ohngeachtet ihre Lehren gantz allgemein
zu seyn schienen, solche dennoch mehr eine
Hauptart der Wahrheiten, als die Wahrheit
in ihrer völligen Abstraction zum Gegenstan-
de hätten. Bey der Lehre von Begriffen
zum Exempel, kommt zwar vieles vor, wel-
ches von allen Begriffen gelten kan, aber die
gantze Tabelle der Eintheilungen derselben,
ratione formae, schickt sich doch mehr vor die
allgemeinen Begriffe, als vor das Gegentheil
derselben; nemlich vor die individuellen Be-
griffe. Die Lehre von Definitionen betrifft
gleichfalls nur die Begriffe der Geschlechter
und Arten. Und so wird man durch Zusam-
menhaltung aller üblichen Lehren in dieser Di-
sciplin gewahr werden, daß man in denselben
durchgängig auf die historische Erkenntniß
wenig oder gar nicht gesehen habe. Dieser
Umstand ist mir also nach und nach in die
Augen geleuchtet; und wie natürlich war es
nicht, daß daraus ein innerlicher Trieb ent-
standen ist, die Gedenckart der menschlichen

Seele
Vorrede.

Schon bey meinen philoſophiſchen Vorle-
ſungen auf der Univerſitaͤt Wittenberg, beſon-
ders uͤber die Vernunftlehre, iſt mir bey oͤfte-
rer Wiederholung derſelben vorgekommen, als
wenn die gegenwaͤrtige Einrichtung dieſer
vortrefflichen Wiſſenſchaft ſo beſchaffen waͤre,
daß, ohngeachtet ihre Lehren gantz allgemein
zu ſeyn ſchienen, ſolche dennoch mehr eine
Hauptart der Wahrheiten, als die Wahrheit
in ihrer voͤlligen Abſtraction zum Gegenſtan-
de haͤtten. Bey der Lehre von Begriffen
zum Exempel, kommt zwar vieles vor, wel-
ches von allen Begriffen gelten kan, aber die
gantze Tabelle der Eintheilungen derſelben,
ratione formæ, ſchickt ſich doch mehr vor die
allgemeinen Begriffe, als vor das Gegentheil
derſelben; nemlich vor die individuellen Be-
griffe. Die Lehre von Definitionen betrifft
gleichfalls nur die Begriffe der Geſchlechter
und Arten. Und ſo wird man durch Zuſam-
menhaltung aller uͤblichen Lehren in dieſer Di-
ſciplin gewahr werden, daß man in denſelben
durchgaͤngig auf die hiſtoriſche Erkenntniß
wenig oder gar nicht geſehen habe. Dieſer
Umſtand iſt mir alſo nach und nach in die
Augen geleuchtet; und wie natuͤrlich war es
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[0017] Vorrede. Schon bey meinen philoſophiſchen Vorle- ſungen auf der Univerſitaͤt Wittenberg, beſon- ders uͤber die Vernunftlehre, iſt mir bey oͤfte- rer Wiederholung derſelben vorgekommen, als wenn die gegenwaͤrtige Einrichtung dieſer vortrefflichen Wiſſenſchaft ſo beſchaffen waͤre, daß, ohngeachtet ihre Lehren gantz allgemein zu ſeyn ſchienen, ſolche dennoch mehr eine Hauptart der Wahrheiten, als die Wahrheit in ihrer voͤlligen Abſtraction zum Gegenſtan- de haͤtten. Bey der Lehre von Begriffen zum Exempel, kommt zwar vieles vor, wel- ches von allen Begriffen gelten kan, aber die gantze Tabelle der Eintheilungen derſelben, ratione formæ, ſchickt ſich doch mehr vor die allgemeinen Begriffe, als vor das Gegentheil derſelben; nemlich vor die individuellen Be- griffe. Die Lehre von Definitionen betrifft gleichfalls nur die Begriffe der Geſchlechter und Arten. Und ſo wird man durch Zuſam- menhaltung aller uͤblichen Lehren in dieſer Di- ſciplin gewahr werden, daß man in denſelben durchgaͤngig auf die hiſtoriſche Erkenntniß wenig oder gar nicht geſehen habe. Dieſer Umſtand iſt mir alſo nach und nach in die Augen geleuchtet; und wie natuͤrlich war es nicht, daß daraus ein innerlicher Trieb ent- ſtanden iſt, die Gedenckart der menſchlichen Seele

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Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/17>, abgerufen am 21.11.2024.