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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

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vom Zuschauer und Sehepunckte.
Seelen mit andern Begriffen erfüllet, so bringt
auch jeder gantz andere Begriffe zur Betrachtung
jeder vor Augen habenden Sache; und macht da-
her auch gantz andere Urtheile, als der andere.
Geld umsetzen kommt uns schon als eine wich-
tige Handlung vor: ein wilder Amerikaner, der
den Handel nicht verstehet, würde solches vor ein
blosses Umtauschen ansehen, ohne daran zu geden-
cken, was wir agio nennen, und weil ihm die Ab-
sicht unbekannt, solches vor ein Spiel halten, wie
Kinder mit einander zu treiben pflegen.

§. 26.
Ein Zuschauer erlangt keine vollständige
Geschichte.

Wenn ein Zuschauer die Begebenheiten, wel-
che er selbst wahrnimmt, sorgfältig zusammen fas-
set, so wird doch gemeiniglich keine vollständige
Geschichte daraus entstehen. Denn weil er die
Sache nach seinem Stande ansiehet (§. 8.) so ist
ihm manches verborgen, welches doch zur Geschich-
te gehöret. So sollte man meinen, daß von dem
Artzte die Historie einer Kranckheit am allerbe-
sten zu erfahren sey; und so ist es auch würcklich,
nehmlich in so ferne der Artzt nach seinem Stan-
de, oder Amte, Nachricht von der Kranckheit ha-
ben kan und muß. Wie aber sein Amt nicht ist,
den Krancken zu warten, oder beständig um ihn
zu seyn: also kan gleichwohl, ohne sein Vorwis-
sen, vieles vorgehen, viele Zufälle können sich er-
eignen, wodurch der Zustand der Kranckheit gar
sehr geändert wird (§. 3. C. 1.). Wenn man

eine
H

vom Zuſchauer und Sehepunckte.
Seelen mit andern Begriffen erfuͤllet, ſo bringt
auch jeder gantz andere Begriffe zur Betrachtung
jeder vor Augen habenden Sache; und macht da-
her auch gantz andere Urtheile, als der andere.
Geld umſetzen kommt uns ſchon als eine wich-
tige Handlung vor: ein wilder Amerikaner, der
den Handel nicht verſtehet, wuͤrde ſolches vor ein
bloſſes Umtauſchen anſehen, ohne daran zu geden-
cken, was wir agio nennen, und weil ihm die Ab-
ſicht unbekannt, ſolches vor ein Spiel halten, wie
Kinder mit einander zu treiben pflegen.

§. 26.
Ein Zuſchauer erlangt keine vollſtaͤndige
Geſchichte.

Wenn ein Zuſchauer die Begebenheiten, wel-
che er ſelbſt wahrnimmt, ſorgfaͤltig zuſammen faſ-
ſet, ſo wird doch gemeiniglich keine vollſtaͤndige
Geſchichte daraus entſtehen. Denn weil er die
Sache nach ſeinem Stande anſiehet (§. 8.) ſo iſt
ihm manches verborgen, welches doch zur Geſchich-
te gehoͤret. So ſollte man meinen, daß von dem
Artzte die Hiſtorie einer Kranckheit am allerbe-
ſten zu erfahren ſey; und ſo iſt es auch wuͤrcklich,
nehmlich in ſo ferne der Artzt nach ſeinem Stan-
de, oder Amte, Nachricht von der Kranckheit ha-
ben kan und muß. Wie aber ſein Amt nicht iſt,
den Krancken zu warten, oder beſtaͤndig um ihn
zu ſeyn: alſo kan gleichwohl, ohne ſein Vorwiſ-
ſen, vieles vorgehen, viele Zufaͤlle koͤnnen ſich er-
eignen, wodurch der Zuſtand der Kranckheit gar
ſehr geaͤndert wird (§. 3. C. 1.). Wenn man

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[113/0149] vom Zuſchauer und Sehepunckte. Seelen mit andern Begriffen erfuͤllet, ſo bringt auch jeder gantz andere Begriffe zur Betrachtung jeder vor Augen habenden Sache; und macht da- her auch gantz andere Urtheile, als der andere. Geld umſetzen kommt uns ſchon als eine wich- tige Handlung vor: ein wilder Amerikaner, der den Handel nicht verſtehet, wuͤrde ſolches vor ein bloſſes Umtauſchen anſehen, ohne daran zu geden- cken, was wir agio nennen, und weil ihm die Ab- ſicht unbekannt, ſolches vor ein Spiel halten, wie Kinder mit einander zu treiben pflegen. §. 26. Ein Zuſchauer erlangt keine vollſtaͤndige Geſchichte. Wenn ein Zuſchauer die Begebenheiten, wel- che er ſelbſt wahrnimmt, ſorgfaͤltig zuſammen faſ- ſet, ſo wird doch gemeiniglich keine vollſtaͤndige Geſchichte daraus entſtehen. Denn weil er die Sache nach ſeinem Stande anſiehet (§. 8.) ſo iſt ihm manches verborgen, welches doch zur Geſchich- te gehoͤret. So ſollte man meinen, daß von dem Artzte die Hiſtorie einer Kranckheit am allerbe- ſten zu erfahren ſey; und ſo iſt es auch wuͤrcklich, nehmlich in ſo ferne der Artzt nach ſeinem Stan- de, oder Amte, Nachricht von der Kranckheit ha- ben kan und muß. Wie aber ſein Amt nicht iſt, den Krancken zu warten, oder beſtaͤndig um ihn zu ſeyn: alſo kan gleichwohl, ohne ſein Vorwiſ- ſen, vieles vorgehen, viele Zufaͤlle koͤnnen ſich er- eignen, wodurch der Zuſtand der Kranckheit gar ſehr geaͤndert wird (§. 3. C. 1.). Wenn man eine H

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Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/149>, abgerufen am 24.11.2024.