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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
scharfsinniger Dialektik den Begriff von der Transscendentalität der Zeit-
vorstellung (wie wir heute sagen würden); ein Wort für seinen Be-
griff findet er nicht, so dass er z. B. bei einer langen Diskussion dieses
Gegenstandes im XI. Buch der Confessiones zuletzt gesteht: "Was ist
also die Zeit? Solange mich keiner darnach fragt, weiss ich es recht
gut, doch sobald ich es einem Fragenden erklären will, weiss ich es
nicht mehr" (Kap. 14). Wir aber verstehen ihn ganz gut. Er will
zeigen, dass es für Gott, d. h. also für eine nicht mehr empirisch be-
schränkte Anschauung, keine Zeit nach unserem Begriffe gebe, und
somit darthun, wie gegenstandslos die vielen Diskussionen über voran-
gegangene und zukünftige Ewigkeit seien. Man sieht, er hat den
Kern echter Religion erfasst; denn seine Beweisführung drängt unab-
wendbar zu der Einsicht, dass aller Chronik der Vergangenheit und
Prophezeiung der Zukunft lediglich bildliche Bedeutung zukomme, wo-
durch aber auch Lohn und Strafe hinfällig werden. Und das ist der selbe
Mann, der sich später nie genug hat thun können, um die unbedingte
buchstäbliche Ewigkeit der Höllenstrafen als eine nicht zu be-
zweifelnde, grundlegende, konkrete Wahrheit nachzuweisen und tief ins
Gemüt einzugraben! Ist man also vollkommen berechtigt, in Augustinus
einen Vorläufer Martin Luther's zu erblicken, so wurde er doch zu-
gleich ein thatsächlicher, mächtiger Bahnbrecher für jene antipaulinische
Richtung, die später in Ignatius und seinem Orden und in ihrer
Religion der Hölle unverhüllten Ausdruck fand.1)

Harnack fasst seine Kapitel Augustinus betreffend folgendermassen
zusammen: "Durch Augustinus wurde die Kirchenlehre nach Umfang
und Bedeutung unsicherer. .... Um das alte Dogma, welches
sich in erstarrender Gültigkeit behauptete, bildete sich ein grosser un-
sicherer Kreis von Lehren, in dem die wichtigsten Glaubensgedanken
lebten, und der doch von Niemandem überschaut und festgefügt werden
konnte." Obwohl gerade er so unermüdet für die Einheit der Kirche
gewirkt hatte, hinterliess er, wie man sieht, noch mehr Stoff zu Kampf
und Entzweiung, als er vorgefunden hatte. Der stürmische Kampf
im eigenen Herzen hatte eben auch nach seinem Eintritt in die Kirche,

1) Siehe S. 525. Auch der mehrere Jahrhunderte später erst entstandene Ab-
lassunfug konnte sich insofern auf Augustinus berufen, als gerade aus jener oben
erwähnten relativen Wertschätzung der Werke und namentlich des Todes Christi
sich der Begriff der Opera supererogationis (Werke über das notwendige Mass hinaus)
ergab, aus welchem überschüssigen Fonds dann durch Vermittlung der Kirche
Verdienste vergeben werden.

Religion.
scharfsinniger Dialektik den Begriff von der Transscendentalität der Zeit-
vorstellung (wie wir heute sagen würden); ein Wort für seinen Be-
griff findet er nicht, so dass er z. B. bei einer langen Diskussion dieses
Gegenstandes im XI. Buch der Confessiones zuletzt gesteht: »Was ist
also die Zeit? Solange mich keiner darnach fragt, weiss ich es recht
gut, doch sobald ich es einem Fragenden erklären will, weiss ich es
nicht mehr« (Kap. 14). Wir aber verstehen ihn ganz gut. Er will
zeigen, dass es für Gott, d. h. also für eine nicht mehr empirisch be-
schränkte Anschauung, keine Zeit nach unserem Begriffe gebe, und
somit darthun, wie gegenstandslos die vielen Diskussionen über voran-
gegangene und zukünftige Ewigkeit seien. Man sieht, er hat den
Kern echter Religion erfasst; denn seine Beweisführung drängt unab-
wendbar zu der Einsicht, dass aller Chronik der Vergangenheit und
Prophezeiung der Zukunft lediglich bildliche Bedeutung zukomme, wo-
durch aber auch Lohn und Strafe hinfällig werden. Und das ist der selbe
Mann, der sich später nie genug hat thun können, um die unbedingte
buchstäbliche Ewigkeit der Höllenstrafen als eine nicht zu be-
zweifelnde, grundlegende, konkrete Wahrheit nachzuweisen und tief ins
Gemüt einzugraben! Ist man also vollkommen berechtigt, in Augustinus
einen Vorläufer Martin Luther’s zu erblicken, so wurde er doch zu-
gleich ein thatsächlicher, mächtiger Bahnbrecher für jene antipaulinische
Richtung, die später in Ignatius und seinem Orden und in ihrer
Religion der Hölle unverhüllten Ausdruck fand.1)

Harnack fasst seine Kapitel Augustinus betreffend folgendermassen
zusammen: »Durch Augustinus wurde die Kirchenlehre nach Umfang
und Bedeutung unsicherer. .... Um das alte Dogma, welches
sich in erstarrender Gültigkeit behauptete, bildete sich ein grosser un-
sicherer Kreis von Lehren, in dem die wichtigsten Glaubensgedanken
lebten, und der doch von Niemandem überschaut und festgefügt werden
konnte.« Obwohl gerade er so unermüdet für die Einheit der Kirche
gewirkt hatte, hinterliess er, wie man sieht, noch mehr Stoff zu Kampf
und Entzweiung, als er vorgefunden hatte. Der stürmische Kampf
im eigenen Herzen hatte eben auch nach seinem Eintritt in die Kirche,

1) Siehe S. 525. Auch der mehrere Jahrhunderte später erst entstandene Ab-
lassunfug konnte sich insofern auf Augustinus berufen, als gerade aus jener oben
erwähnten relativen Wertschätzung der Werke und namentlich des Todes Christi
sich der Begriff der Opera supererogationis (Werke über das notwendige Mass hinaus)
ergab, aus welchem überschüssigen Fonds dann durch Vermittlung der Kirche
Verdienste vergeben werden.
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[599/0078] Religion. scharfsinniger Dialektik den Begriff von der Transscendentalität der Zeit- vorstellung (wie wir heute sagen würden); ein Wort für seinen Be- griff findet er nicht, so dass er z. B. bei einer langen Diskussion dieses Gegenstandes im XI. Buch der Confessiones zuletzt gesteht: »Was ist also die Zeit? Solange mich keiner darnach fragt, weiss ich es recht gut, doch sobald ich es einem Fragenden erklären will, weiss ich es nicht mehr« (Kap. 14). Wir aber verstehen ihn ganz gut. Er will zeigen, dass es für Gott, d. h. also für eine nicht mehr empirisch be- schränkte Anschauung, keine Zeit nach unserem Begriffe gebe, und somit darthun, wie gegenstandslos die vielen Diskussionen über voran- gegangene und zukünftige Ewigkeit seien. Man sieht, er hat den Kern echter Religion erfasst; denn seine Beweisführung drängt unab- wendbar zu der Einsicht, dass aller Chronik der Vergangenheit und Prophezeiung der Zukunft lediglich bildliche Bedeutung zukomme, wo- durch aber auch Lohn und Strafe hinfällig werden. Und das ist der selbe Mann, der sich später nie genug hat thun können, um die unbedingte buchstäbliche Ewigkeit der Höllenstrafen als eine nicht zu be- zweifelnde, grundlegende, konkrete Wahrheit nachzuweisen und tief ins Gemüt einzugraben! Ist man also vollkommen berechtigt, in Augustinus einen Vorläufer Martin Luther’s zu erblicken, so wurde er doch zu- gleich ein thatsächlicher, mächtiger Bahnbrecher für jene antipaulinische Richtung, die später in Ignatius und seinem Orden und in ihrer Religion der Hölle unverhüllten Ausdruck fand. 1) Harnack fasst seine Kapitel Augustinus betreffend folgendermassen zusammen: »Durch Augustinus wurde die Kirchenlehre nach Umfang und Bedeutung unsicherer. .... Um das alte Dogma, welches sich in erstarrender Gültigkeit behauptete, bildete sich ein grosser un- sicherer Kreis von Lehren, in dem die wichtigsten Glaubensgedanken lebten, und der doch von Niemandem überschaut und festgefügt werden konnte.« Obwohl gerade er so unermüdet für die Einheit der Kirche gewirkt hatte, hinterliess er, wie man sieht, noch mehr Stoff zu Kampf und Entzweiung, als er vorgefunden hatte. Der stürmische Kampf im eigenen Herzen hatte eben auch nach seinem Eintritt in die Kirche, 1) Siehe S. 525. Auch der mehrere Jahrhunderte später erst entstandene Ab- lassunfug konnte sich insofern auf Augustinus berufen, als gerade aus jener oben erwähnten relativen Wertschätzung der Werke und namentlich des Todes Christi sich der Begriff der Opera supererogationis (Werke über das notwendige Mass hinaus) ergab, aus welchem überschüssigen Fonds dann durch Vermittlung der Kirche Verdienste vergeben werden.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/78>, abgerufen am 25.11.2024.