Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Religion. behauptet hatte). Mehr als Andeutungen kann ich ja nicht geben,auch jetzt nicht, wenn ich mich anschicke, einen Blick auf den Kampf zu werfen, der sich aus einer so naturwidrigen Verbindung unaus- bleiblich ergeben musste. Eigentliche Geschichte gewinnt nur dadurch Wahrheit, dass sie möglichst im Einzelnen, möglichst ausführlich zur Kenntnis genommen wird; wo das nicht möglich ist, kann der Über- blick gar nicht zu allgemein gehalten werden, denn nur dadurch gelingt es, eine Wahrheit höherer Ordnung, etwas Lebendiges und Unver- stümmeltes wirklich ganz zu erfassen; die wirklichen Feinde geschicht- licher Einsicht sind die Kompendien. In diesem besonderen Falle wird die Erkenntnis des Zusammenhanges der Erscheinungen dadurch sehr erleichtert, dass es sich um Dinge handelt, die noch heute in unserem eigenen Herzen leben. Den in diesem Kapitel angedeuteten Zwist beherbergt nämlich, wenn auch meistens unbewusst, das Herz eines jeden Christen. Tobte der Kampf in den ersten christlichen Jahrhunderten äusserlich heftiger als heute, so gab es doch niemals einen völligen Waffenstillstand; gerade in der zweiten Hälfte unseres 19. Jahrhunderts wurden die hier berührten Fragen immer kritischer zugespitzt, hauptsächlich durch die Thätigkeit der ewig geschäftigen, im Kampfe nie ermüdenden römischen Kirche; es ist auch gar nicht denkbar, dass unsere werdende Kultur jemals eine wahre Reife erlangen kann, wenn nicht die ungetrübte Sonne einer reinen, einheitlichen Religion sie erhellt; dadurch erst würde sie aus dem "Mittelalter" heraustreten. Leuchtet es nun ohne Weiteres ein, dass eine lebendige Kenntnis jener frühen Zeit des offenen, rücksichtslosen Kampfes von grossem Nutzen sein muss, damit wir unsere eigene Zeit verstehen, so hilft uns wiederum ohne Frage der Geist unserer Gegenwart gerade jene allererste Epoche des werdenden, ehrlich und frei suchenden Christentums begreifen. Ich sage ausdrücklich, nur die allererste Epoche lehren uns die Erfahrungen des eigenen Herzens verstehen; denn später wurde der Kampf immer weniger wahrhaft religiös, immer mehr rein kirchlich-politisch. Als das Papsttum den Höhe- punkt seiner Macht erklommen hatte (im 12. Jahrhundert unter Inno- cenz III.), hörte der eigentliche religiöse Impuls (der noch kurz vorher, in Gregor VII., so kräftig gewirkt hatte) auf, die Kirche war fortan gewissermassen säkularisiert; ebensowenig darf die Reformation jemals auch nur einen Augenblick als rein religiöse Bewegung betrachtet und beurteilt werden, ist sie doch offenbar mindestens zur Hälfte eine politische; und unter solchen Bedingungen giebt es bald kein Ver- Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 37
Religion. behauptet hatte). Mehr als Andeutungen kann ich ja nicht geben,auch jetzt nicht, wenn ich mich anschicke, einen Blick auf den Kampf zu werfen, der sich aus einer so naturwidrigen Verbindung unaus- bleiblich ergeben musste. Eigentliche Geschichte gewinnt nur dadurch Wahrheit, dass sie möglichst im Einzelnen, möglichst ausführlich zur Kenntnis genommen wird; wo das nicht möglich ist, kann der Über- blick gar nicht zu allgemein gehalten werden, denn nur dadurch gelingt es, eine Wahrheit höherer Ordnung, etwas Lebendiges und Unver- stümmeltes wirklich ganz zu erfassen; die wirklichen Feinde geschicht- licher Einsicht sind die Kompendien. In diesem besonderen Falle wird die Erkenntnis des Zusammenhanges der Erscheinungen dadurch sehr erleichtert, dass es sich um Dinge handelt, die noch heute in unserem eigenen Herzen leben. Den in diesem Kapitel angedeuteten Zwist beherbergt nämlich, wenn auch meistens unbewusst, das Herz eines jeden Christen. Tobte der Kampf in den ersten christlichen Jahrhunderten äusserlich heftiger als heute, so gab es doch niemals einen völligen Waffenstillstand; gerade in der zweiten Hälfte unseres 19. Jahrhunderts wurden die hier berührten Fragen immer kritischer zugespitzt, hauptsächlich durch die Thätigkeit der ewig geschäftigen, im Kampfe nie ermüdenden römischen Kirche; es ist auch gar nicht denkbar, dass unsere werdende Kultur jemals eine wahre Reife erlangen kann, wenn nicht die ungetrübte Sonne einer reinen, einheitlichen Religion sie erhellt; dadurch erst würde sie aus dem »Mittelalter« heraustreten. Leuchtet es nun ohne Weiteres ein, dass eine lebendige Kenntnis jener frühen Zeit des offenen, rücksichtslosen Kampfes von grossem Nutzen sein muss, damit wir unsere eigene Zeit verstehen, so hilft uns wiederum ohne Frage der Geist unserer Gegenwart gerade jene allererste Epoche des werdenden, ehrlich und frei suchenden Christentums begreifen. Ich sage ausdrücklich, nur die allererste Epoche lehren uns die Erfahrungen des eigenen Herzens verstehen; denn später wurde der Kampf immer weniger wahrhaft religiös, immer mehr rein kirchlich-politisch. Als das Papsttum den Höhe- punkt seiner Macht erklommen hatte (im 12. Jahrhundert unter Inno- cenz III.), hörte der eigentliche religiöse Impuls (der noch kurz vorher, in Gregor VII., so kräftig gewirkt hatte) auf, die Kirche war fortan gewissermassen säkularisiert; ebensowenig darf die Reformation jemals auch nur einen Augenblick als rein religiöse Bewegung betrachtet und beurteilt werden, ist sie doch offenbar mindestens zur Hälfte eine politische; und unter solchen Bedingungen giebt es bald kein Ver- Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 37
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Religion.
behauptet hatte). Mehr als Andeutungen kann ich ja nicht geben,
auch jetzt nicht, wenn ich mich anschicke, einen Blick auf den Kampf
zu werfen, der sich aus einer so naturwidrigen Verbindung unaus-
bleiblich ergeben musste. Eigentliche Geschichte gewinnt nur dadurch
Wahrheit, dass sie möglichst im Einzelnen, möglichst ausführlich zur
Kenntnis genommen wird; wo das nicht möglich ist, kann der Über-
blick gar nicht zu allgemein gehalten werden, denn nur dadurch gelingt
es, eine Wahrheit höherer Ordnung, etwas Lebendiges und Unver-
stümmeltes wirklich ganz zu erfassen; die wirklichen Feinde geschicht-
licher Einsicht sind die Kompendien. In diesem besonderen Falle
wird die Erkenntnis des Zusammenhanges der Erscheinungen dadurch
sehr erleichtert, dass es sich um Dinge handelt, die noch heute in
unserem eigenen Herzen leben. Den in diesem Kapitel angedeuteten
Zwist beherbergt nämlich, wenn auch meistens unbewusst, das Herz
eines jeden Christen. Tobte der Kampf in den ersten christlichen
Jahrhunderten äusserlich heftiger als heute, so gab es doch niemals
einen völligen Waffenstillstand; gerade in der zweiten Hälfte unseres
19. Jahrhunderts wurden die hier berührten Fragen immer kritischer
zugespitzt, hauptsächlich durch die Thätigkeit der ewig geschäftigen,
im Kampfe nie ermüdenden römischen Kirche; es ist auch gar nicht
denkbar, dass unsere werdende Kultur jemals eine wahre Reife erlangen
kann, wenn nicht die ungetrübte Sonne einer reinen, einheitlichen
Religion sie erhellt; dadurch erst würde sie aus dem »Mittelalter«
heraustreten. Leuchtet es nun ohne Weiteres ein, dass eine lebendige
Kenntnis jener frühen Zeit des offenen, rücksichtslosen Kampfes von
grossem Nutzen sein muss, damit wir unsere eigene Zeit verstehen, so
hilft uns wiederum ohne Frage der Geist unserer Gegenwart gerade
jene allererste Epoche des werdenden, ehrlich und frei suchenden
Christentums begreifen. Ich sage ausdrücklich, nur die allererste
Epoche lehren uns die Erfahrungen des eigenen Herzens verstehen;
denn später wurde der Kampf immer weniger wahrhaft religiös,
immer mehr rein kirchlich-politisch. Als das Papsttum den Höhe-
punkt seiner Macht erklommen hatte (im 12. Jahrhundert unter Inno-
cenz III.), hörte der eigentliche religiöse Impuls (der noch kurz vorher,
in Gregor VII., so kräftig gewirkt hatte) auf, die Kirche war fortan
gewissermassen säkularisiert; ebensowenig darf die Reformation jemals
auch nur einen Augenblick als rein religiöse Bewegung betrachtet und
beurteilt werden, ist sie doch offenbar mindestens zur Hälfte eine
politische; und unter solchen Bedingungen giebt es bald kein Ver-
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 37
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