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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
die einzigen wirksamen Triebfedern; was Erlösung ist, weiss bald kaum
einer mehr, da die Prediger selber unter "Erlösung" sich meist Erlösung
von Höllenstrafen dachten und noch heute denken.1) Die Menschen
des Völkerchaos verstanden eben keine anderen Argumente; schon ein
Zeitgenosse des Origenes, der Afrikaner Tertullian, erklärt freimütig,
nur Eines könne die Menschen bessern: "die Furcht vor ewiger Strafe
und die Hoffnung auf ewigen Lohn" (Apol. 49). Natürlich lehnten
sich einzelne auserlesene Geister stets gegen diese Materialisierung und
Judaisierung der Religion auf; so könnte z. B. die Bedeutung der christ-
lichen Mystik vielleicht in dem einen Wort zusammengefasst werden,
dass sie dies alles bei Seite schob und einzig die Umwandlung des inneren
Menschen -- d. h. die Erlösung -- erstrebte; doch zusammenreimen
liessen sich die zwei Anschauungen nie und nimmer, und gerade
dieses Unmögliche wurde vom gläubigen Christen gefordert. Ent-
weder soll der Glaube die Menschen "bessern", wie Tertullian be-
hauptet, oder er soll sie durch eine Umkehrung ihres gesamten Seelen-
lebens völlig umwandeln, wie das Evangelium es gelehrt hatte; ent-
weder ist diese Welt eine Strafanstalt, welche wir hassen sollen, was
schon Clemens von Rom im 2. Jahrhundert ausspricht2) (und nach ihm
die ganze offizielle Kirche), oder aber es ist diese Welt der gesegnete
Acker, in welchem das Himmelreich gleich einem verborgenen Schatz
liegt, wie Christus gelehrt hatte. Die eine Behauptung widerspricht
der anderen.

Auf diese Gegensätze komme ich noch im weiteren Verlauf desDer unlösbare
Zwist.

Kapitels zurück; ich musste aber gleich hier empfinden lassen, wie sehr es
sich um wirkliche Gegensätze handelt, und zugleich in welchem Masse
das Judentum siegreich und als eminent positiv wirkende Macht durch-
drang. Mit dem stolzen Selbstbewusstsein des echten indoeuropäischen
Aristokraten hatte Origenes gemeint: "nur für den gemeinen Mann möge
es genügen zu wissen, dass der Sünder bestraft wird"; nun waren aber
alle diese Männer aus dem Völkerchaos "gemeine Männer"; Sicherheit,
Furchtlosigkeit, Bestimmtheit verleihen nur Rasse und Nation; Menschen-
adel ist ein Kollektivbegriff;3) der edelste Vereinzelte -- z. B. ein
Augustinus -- bleibt in den Vorstellungen und Gesinnungen der Ge-

1) Man nehme z. B. das Handbuch für den katholischen Religionsunterricht vom
Domkapitular Arthur König zur Hand und lese das Kapitel über die Erlösung.
Nikodemus hätte nicht die geringste Schwierigkeit empfunden, diese Lehre zu verstehen.
2) Siehe dessen zweiten Brief § 6.
3) Vergl. S. 312.

Religion.
die einzigen wirksamen Triebfedern; was Erlösung ist, weiss bald kaum
einer mehr, da die Prediger selber unter »Erlösung« sich meist Erlösung
von Höllenstrafen dachten und noch heute denken.1) Die Menschen
des Völkerchaos verstanden eben keine anderen Argumente; schon ein
Zeitgenosse des Origenes, der Afrikaner Tertullian, erklärt freimütig,
nur Eines könne die Menschen bessern: »die Furcht vor ewiger Strafe
und die Hoffnung auf ewigen Lohn« (Apol. 49). Natürlich lehnten
sich einzelne auserlesene Geister stets gegen diese Materialisierung und
Judaisierung der Religion auf; so könnte z. B. die Bedeutung der christ-
lichen Mystik vielleicht in dem einen Wort zusammengefasst werden,
dass sie dies alles bei Seite schob und einzig die Umwandlung des inneren
Menschen — d. h. die Erlösung — erstrebte; doch zusammenreimen
liessen sich die zwei Anschauungen nie und nimmer, und gerade
dieses Unmögliche wurde vom gläubigen Christen gefordert. Ent-
weder soll der Glaube die Menschen »bessern«, wie Tertullian be-
hauptet, oder er soll sie durch eine Umkehrung ihres gesamten Seelen-
lebens völlig umwandeln, wie das Evangelium es gelehrt hatte; ent-
weder ist diese Welt eine Strafanstalt, welche wir hassen sollen, was
schon Clemens von Rom im 2. Jahrhundert ausspricht2) (und nach ihm
die ganze offizielle Kirche), oder aber es ist diese Welt der gesegnete
Acker, in welchem das Himmelreich gleich einem verborgenen Schatz
liegt, wie Christus gelehrt hatte. Die eine Behauptung widerspricht
der anderen.

Auf diese Gegensätze komme ich noch im weiteren Verlauf desDer unlösbare
Zwist.

Kapitels zurück; ich musste aber gleich hier empfinden lassen, wie sehr es
sich um wirkliche Gegensätze handelt, und zugleich in welchem Masse
das Judentum siegreich und als eminent positiv wirkende Macht durch-
drang. Mit dem stolzen Selbstbewusstsein des echten indoeuropäischen
Aristokraten hatte Origenes gemeint: »nur für den gemeinen Mann möge
es genügen zu wissen, dass der Sünder bestraft wird«; nun waren aber
alle diese Männer aus dem Völkerchaos »gemeine Männer«; Sicherheit,
Furchtlosigkeit, Bestimmtheit verleihen nur Rasse und Nation; Menschen-
adel ist ein Kollektivbegriff;3) der edelste Vereinzelte — z. B. ein
Augustinus — bleibt in den Vorstellungen und Gesinnungen der Ge-

1) Man nehme z. B. das Handbuch für den katholischen Religionsunterricht vom
Domkapitular Arthur König zur Hand und lese das Kapitel über die Erlösung.
Nikodemus hätte nicht die geringste Schwierigkeit empfunden, diese Lehre zu verstehen.
2) Siehe dessen zweiten Brief § 6.
3) Vergl. S. 312.
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[575/0054] Religion. die einzigen wirksamen Triebfedern; was Erlösung ist, weiss bald kaum einer mehr, da die Prediger selber unter »Erlösung« sich meist Erlösung von Höllenstrafen dachten und noch heute denken. 1) Die Menschen des Völkerchaos verstanden eben keine anderen Argumente; schon ein Zeitgenosse des Origenes, der Afrikaner Tertullian, erklärt freimütig, nur Eines könne die Menschen bessern: »die Furcht vor ewiger Strafe und die Hoffnung auf ewigen Lohn« (Apol. 49). Natürlich lehnten sich einzelne auserlesene Geister stets gegen diese Materialisierung und Judaisierung der Religion auf; so könnte z. B. die Bedeutung der christ- lichen Mystik vielleicht in dem einen Wort zusammengefasst werden, dass sie dies alles bei Seite schob und einzig die Umwandlung des inneren Menschen — d. h. die Erlösung — erstrebte; doch zusammenreimen liessen sich die zwei Anschauungen nie und nimmer, und gerade dieses Unmögliche wurde vom gläubigen Christen gefordert. Ent- weder soll der Glaube die Menschen »bessern«, wie Tertullian be- hauptet, oder er soll sie durch eine Umkehrung ihres gesamten Seelen- lebens völlig umwandeln, wie das Evangelium es gelehrt hatte; ent- weder ist diese Welt eine Strafanstalt, welche wir hassen sollen, was schon Clemens von Rom im 2. Jahrhundert ausspricht 2) (und nach ihm die ganze offizielle Kirche), oder aber es ist diese Welt der gesegnete Acker, in welchem das Himmelreich gleich einem verborgenen Schatz liegt, wie Christus gelehrt hatte. Die eine Behauptung widerspricht der anderen. Auf diese Gegensätze komme ich noch im weiteren Verlauf des Kapitels zurück; ich musste aber gleich hier empfinden lassen, wie sehr es sich um wirkliche Gegensätze handelt, und zugleich in welchem Masse das Judentum siegreich und als eminent positiv wirkende Macht durch- drang. Mit dem stolzen Selbstbewusstsein des echten indoeuropäischen Aristokraten hatte Origenes gemeint: »nur für den gemeinen Mann möge es genügen zu wissen, dass der Sünder bestraft wird«; nun waren aber alle diese Männer aus dem Völkerchaos »gemeine Männer«; Sicherheit, Furchtlosigkeit, Bestimmtheit verleihen nur Rasse und Nation; Menschen- adel ist ein Kollektivbegriff; 3) der edelste Vereinzelte — z. B. ein Augustinus — bleibt in den Vorstellungen und Gesinnungen der Ge- Der unlösbare Zwist. 1) Man nehme z. B. das Handbuch für den katholischen Religionsunterricht vom Domkapitular Arthur König zur Hand und lese das Kapitel über die Erlösung. Nikodemus hätte nicht die geringste Schwierigkeit empfunden, diese Lehre zu verstehen. 2) Siehe dessen zweiten Brief § 6. 3) Vergl. S. 312.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/54>, abgerufen am 27.11.2024.