Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Kunst. von Wert.1) Dass umgekehrt, die klassische Philologie meistens eineeigentümliche Unempfänglichkeit für bildende Kunst, wie auch für die Natur erzeugt, hat jeder von uns oft zu beobachten Gelegenheit gehabt. Über Winckelmann's berühmten Zeitgenossen, F. A. Wolf, erfahren wir z. B., dass sein Stumpfsinn der Natur gegenüber und seine absolute Verständnislosigkeit für Werke der Kunst ihn Goethe fast unerträglich machten.2) Wir stehen also hier -- bei unserem Dogma der klassischen Kunst -- vor einem pathologischen Phänomen; und wir müssen uns freuen, wenn der gesunde, herrliche Goethe, der auf der einen Seite der krankhaften klassischen Reaktion Vorschub leistet, auf der anderen unentwegt naturalistische Ratschläge giebt. So warnt er z. B. am 15. September 1823 Eckermann vor phantastischer Dichterei und belehrt ihn: "die Wirklichkeit muss die Veranlassung und den Stoff zu allen Gedichten hergeben; allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, dass ihn der Dichter behandelt .... der Wirklichkeit fehlt es nicht an poetischem Interesse." Die reine Lehre der Donatello und Rembrandt! Und studieren wir nun Goethe's Auffassung genauer -- wozu z. B. die Einleitung in die Propyläen gute Dienste leisten wird (aus 1798, also gerade an der Grenze unseres Gegenstandes) -- so werden wir finden, dass das "Klassische" bei ihm kaum mehr als ein faltiger Überwurf ist. Immer wieder schärft er das Studium der Natur als "vornehmste Forderung" ein, und verlangt nicht etwa das bloss rein künstlerische Studium, sondern exakte natur- wissenschaftliche Kenntnisse (Mineralogie, Botanik, Anatomie u. s. w.): das ist entscheidend, denn das ist absolut unhellenisch und durchaus spezifisch germanisch. Und finden wir daselbst das schöne Wort: der Künstler solle "wetteifernd mit der Natur" ein Werk hervorzubringen trachten, "zugleich natürlich und übernatürlich," so werden wir ohne Zögern in diesem Credo einen direkten Gegensatz zum hellenischen Kunstprinzip entdecken; denn dieses letztere greift weder hinunter bis in die Wurzeltiefen der Natur, noch reicht es hinauf bis in das Übernatürliche. Diese Gegenüberstellung verdient einen besonderen Absatz. Wem das tönende Erz ästhetischer Phrasen nicht genügt, wer 1) Winckelmann (Abschnitt Poesie). 2) F. W. Riemer: Mitteilungen über Goethe (citiert nach Biedermann: Goethe's
Gespräche, 3. Band, S. 135). Kunst. von Wert.1) Dass umgekehrt, die klassische Philologie meistens eineeigentümliche Unempfänglichkeit für bildende Kunst, wie auch für die Natur erzeugt, hat jeder von uns oft zu beobachten Gelegenheit gehabt. Über Winckelmann’s berühmten Zeitgenossen, F. A. Wolf, erfahren wir z. B., dass sein Stumpfsinn der Natur gegenüber und seine absolute Verständnislosigkeit für Werke der Kunst ihn Goethe fast unerträglich machten.2) Wir stehen also hier — bei unserem Dogma der klassischen Kunst — vor einem pathologischen Phänomen; und wir müssen uns freuen, wenn der gesunde, herrliche Goethe, der auf der einen Seite der krankhaften klassischen Reaktion Vorschub leistet, auf der anderen unentwegt naturalistische Ratschläge giebt. So warnt er z. B. am 15. September 1823 Eckermann vor phantastischer Dichterei und belehrt ihn: »die Wirklichkeit muss die Veranlassung und den Stoff zu allen Gedichten hergeben; allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, dass ihn der Dichter behandelt .... der Wirklichkeit fehlt es nicht an poetischem Interesse.« Die reine Lehre der Donatello und Rembrandt! Und studieren wir nun Goethe’s Auffassung genauer — wozu z. B. die Einleitung in die Propyläen gute Dienste leisten wird (aus 1798, also gerade an der Grenze unseres Gegenstandes) — so werden wir finden, dass das »Klassische« bei ihm kaum mehr als ein faltiger Überwurf ist. Immer wieder schärft er das Studium der Natur als »vornehmste Forderung« ein, und verlangt nicht etwa das bloss rein künstlerische Studium, sondern exakte natur- wissenschaftliche Kenntnisse (Mineralogie, Botanik, Anatomie u. s. w.): das ist entscheidend, denn das ist absolut unhellenisch und durchaus spezifisch germanisch. Und finden wir daselbst das schöne Wort: der Künstler solle »wetteifernd mit der Natur« ein Werk hervorzubringen trachten, »zugleich natürlich und übernatürlich,« so werden wir ohne Zögern in diesem Credo einen direkten Gegensatz zum hellenischen Kunstprinzip entdecken; denn dieses letztere greift weder hinunter bis in die Wurzeltiefen der Natur, noch reicht es hinauf bis in das Übernatürliche. Diese Gegenüberstellung verdient einen besonderen Absatz. Wem das tönende Erz ästhetischer Phrasen nicht genügt, wer 1) Winckelmann (Abschnitt Poesie). 2) F. W. Riemer: Mitteilungen über Goethe (citiert nach Biedermann: Goethe’s
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Kunst.
von Wert. 1) Dass umgekehrt, die klassische Philologie meistens eine
eigentümliche Unempfänglichkeit für bildende Kunst, wie auch für
die Natur erzeugt, hat jeder von uns oft zu beobachten Gelegenheit
gehabt. Über Winckelmann’s berühmten Zeitgenossen, F. A. Wolf,
erfahren wir z. B., dass sein Stumpfsinn der Natur gegenüber und
seine absolute Verständnislosigkeit für Werke der Kunst ihn Goethe
fast unerträglich machten. 2) Wir stehen also hier — bei unserem
Dogma der klassischen Kunst — vor einem pathologischen Phänomen;
und wir müssen uns freuen, wenn der gesunde, herrliche Goethe, der
auf der einen Seite der krankhaften klassischen Reaktion Vorschub
leistet, auf der anderen unentwegt naturalistische Ratschläge giebt. So
warnt er z. B. am 15. September 1823 Eckermann vor phantastischer
Dichterei und belehrt ihn: »die Wirklichkeit muss die Veranlassung
und den Stoff zu allen Gedichten hergeben; allgemein und poetisch
wird ein spezieller Fall eben dadurch, dass ihn der Dichter behandelt ....
der Wirklichkeit fehlt es nicht an poetischem Interesse.« Die reine
Lehre der Donatello und Rembrandt! Und studieren wir nun Goethe’s
Auffassung genauer — wozu z. B. die Einleitung in die Propyläen
gute Dienste leisten wird (aus 1798, also gerade an der Grenze unseres
Gegenstandes) — so werden wir finden, dass das »Klassische« bei ihm
kaum mehr als ein faltiger Überwurf ist. Immer wieder schärft er
das Studium der Natur als »vornehmste Forderung« ein, und verlangt
nicht etwa das bloss rein künstlerische Studium, sondern exakte natur-
wissenschaftliche Kenntnisse (Mineralogie, Botanik, Anatomie u. s. w.):
das ist entscheidend, denn das ist absolut unhellenisch und durchaus
spezifisch germanisch. Und finden wir daselbst das schöne Wort: der
Künstler solle »wetteifernd mit der Natur« ein Werk hervorzubringen
trachten, »zugleich natürlich und übernatürlich,« so werden
wir ohne Zögern in diesem Credo einen direkten Gegensatz zum
hellenischen Kunstprinzip entdecken; denn dieses letztere greift weder
hinunter bis in die Wurzeltiefen der Natur, noch reicht es hinauf bis
in das Übernatürliche.
Diese Gegenüberstellung verdient einen besonderen Absatz.
Wem das tönende Erz ästhetischer Phrasen nicht genügt, wer
die Eigenart hellenischer Kunst durch klare Erkenntnis der besonderen,
nie wiederkehrenden Individualität des besonderen Menschenstammes
1) Winckelmann (Abschnitt Poesie).
2) F. W. Riemer: Mitteilungen über Goethe (citiert nach Biedermann: Goethe’s
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