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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
Architektur des so innig tonverwandten Michelangelo und überhaupt
der Florentiner genau ebenso "musikalisch" ist wie jene. Im Grunde
genommen ist jedoch der Vergleich, trotz Goethe, wenig treffend; man
muss etwas tiefer schauen, um das Musikalische in allen unseren Künsten
am Werke zu erblicken. Einer der feinsten Beurteiler bildender Kunst aus
den letzten Jahren, dazu ein Mann von altklassischer Bildung und Neigung,
Walter Pater, kommt bei der Betrachtung unserer germanischen Kunst
zu dem Schlusse: "Was unsere Künste mit einander verbindet, ist das
Element der Musik. Besitzt auch jede einzelne Kunstart ein besonderes
Lebensprinzip, eine unübertragbare Skala der Empfindungen, eine nur
ihr eigene Art, den künstlerischen Verstand zu affizieren, so kann man
doch von jeder Kunst sagen, dass sie beständig nach jenem Ausdruck
strebt, der das Lebenselement der Musik ausmacht".1)

Was wir hier für ein tieferes Verständnis unserer Kunst undDer
Naturalismus.

unserer Kunstgeschichte gewonnen haben, würde jedoch durchaus ein-
seitig und daher irreleitend bleiben, wollten wir es dabei bewenden
lassen; darum müssen wir jetzt von diesem einen ragenden Gipfel-
punkt auf einen anderen hinüberschreiten. Sagt man, unsere Kunst
strebe nach jenem Ausdruck, der das Lebenselement der Musik aus-
macht, so bezeichnet man damit gewissermassen das Innere; die Kunst
hat aber auch ein Äusseres, ja, selbst die Musik wird, wie Carlyle so
treffend bemerkt hat, "ganz verrückt und wie vom Delirium ergriffen,
sobald sie sich ganz und gar von der Realität sinnlich greifbarer, wirk-
licher Dinge scheidet".2) Für die Kunst gilt dasselbe, was für den
einzelnen Menschen gilt: man kann wohl in Gedanken ein Inneres
und ein Äusseres unterscheiden, in der Praxis ist es aber undurch-
führbar; denn wir kennen kein Inneres, das nicht einzig und allein
in einem Äusseren gegeben würde. Ja, von dem Kunstwerk können
wir mit Sicherheit behaupten, es bestehe zunächst lediglich aus einem
Äusseren. Ich erinnere an die S. 55 besprochenen Worte Schiller's:
das Schöne ist zwar "Leben", sofern es in uns Gefühle, d. h. Thaten
erregt, zunächst ist es jedoch lediglich "Form", die wir "betrachten".
Erlebe ich nun bei dem Anblick von Michelangelo's Nacht und Abend-
dämmerung
eine so tief innerliche und zugleich so intensive Erregung,
dass ich sie nur mit dem Eindruck berückender Musik vergleichen
kann, so ist das, wie Schiller sagt, "meine That"; nicht jede Seele

1) The Renaissance, studies in art and poetry.
2) Aufsatz The Opera in den Miscellaneous Essays.

Kunst.
Architektur des so innig tonverwandten Michelangelo und überhaupt
der Florentiner genau ebenso »musikalisch« ist wie jene. Im Grunde
genommen ist jedoch der Vergleich, trotz Goethe, wenig treffend; man
muss etwas tiefer schauen, um das Musikalische in allen unseren Künsten
am Werke zu erblicken. Einer der feinsten Beurteiler bildender Kunst aus
den letzten Jahren, dazu ein Mann von altklassischer Bildung und Neigung,
Walter Pater, kommt bei der Betrachtung unserer germanischen Kunst
zu dem Schlusse: »Was unsere Künste mit einander verbindet, ist das
Element der Musik. Besitzt auch jede einzelne Kunstart ein besonderes
Lebensprinzip, eine unübertragbare Skala der Empfindungen, eine nur
ihr eigene Art, den künstlerischen Verstand zu affizieren, so kann man
doch von jeder Kunst sagen, dass sie beständig nach jenem Ausdruck
strebt, der das Lebenselement der Musik ausmacht«.1)

Was wir hier für ein tieferes Verständnis unserer Kunst undDer
Naturalismus.

unserer Kunstgeschichte gewonnen haben, würde jedoch durchaus ein-
seitig und daher irreleitend bleiben, wollten wir es dabei bewenden
lassen; darum müssen wir jetzt von diesem einen ragenden Gipfel-
punkt auf einen anderen hinüberschreiten. Sagt man, unsere Kunst
strebe nach jenem Ausdruck, der das Lebenselement der Musik aus-
macht, so bezeichnet man damit gewissermassen das Innere; die Kunst
hat aber auch ein Äusseres, ja, selbst die Musik wird, wie Carlyle so
treffend bemerkt hat, »ganz verrückt und wie vom Delirium ergriffen,
sobald sie sich ganz und gar von der Realität sinnlich greifbarer, wirk-
licher Dinge scheidet«.2) Für die Kunst gilt dasselbe, was für den
einzelnen Menschen gilt: man kann wohl in Gedanken ein Inneres
und ein Äusseres unterscheiden, in der Praxis ist es aber undurch-
führbar; denn wir kennen kein Inneres, das nicht einzig und allein
in einem Äusseren gegeben würde. Ja, von dem Kunstwerk können
wir mit Sicherheit behaupten, es bestehe zunächst lediglich aus einem
Äusseren. Ich erinnere an die S. 55 besprochenen Worte Schiller’s:
das Schöne ist zwar »Leben«, sofern es in uns Gefühle, d. h. Thaten
erregt, zunächst ist es jedoch lediglich »Form«, die wir »betrachten«.
Erlebe ich nun bei dem Anblick von Michelangelo’s Nacht und Abend-
dämmerung
eine so tief innerliche und zugleich so intensive Erregung,
dass ich sie nur mit dem Eindruck berückender Musik vergleichen
kann, so ist das, wie Schiller sagt, »meine That«; nicht jede Seele

1) The Renaissance, studies in art and poetry.
2) Aufsatz The Opera in den Miscellaneous Essays.
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[989/0468] Kunst. Architektur des so innig tonverwandten Michelangelo und überhaupt der Florentiner genau ebenso »musikalisch« ist wie jene. Im Grunde genommen ist jedoch der Vergleich, trotz Goethe, wenig treffend; man muss etwas tiefer schauen, um das Musikalische in allen unseren Künsten am Werke zu erblicken. Einer der feinsten Beurteiler bildender Kunst aus den letzten Jahren, dazu ein Mann von altklassischer Bildung und Neigung, Walter Pater, kommt bei der Betrachtung unserer germanischen Kunst zu dem Schlusse: »Was unsere Künste mit einander verbindet, ist das Element der Musik. Besitzt auch jede einzelne Kunstart ein besonderes Lebensprinzip, eine unübertragbare Skala der Empfindungen, eine nur ihr eigene Art, den künstlerischen Verstand zu affizieren, so kann man doch von jeder Kunst sagen, dass sie beständig nach jenem Ausdruck strebt, der das Lebenselement der Musik ausmacht«. 1) Was wir hier für ein tieferes Verständnis unserer Kunst und unserer Kunstgeschichte gewonnen haben, würde jedoch durchaus ein- seitig und daher irreleitend bleiben, wollten wir es dabei bewenden lassen; darum müssen wir jetzt von diesem einen ragenden Gipfel- punkt auf einen anderen hinüberschreiten. Sagt man, unsere Kunst strebe nach jenem Ausdruck, der das Lebenselement der Musik aus- macht, so bezeichnet man damit gewissermassen das Innere; die Kunst hat aber auch ein Äusseres, ja, selbst die Musik wird, wie Carlyle so treffend bemerkt hat, »ganz verrückt und wie vom Delirium ergriffen, sobald sie sich ganz und gar von der Realität sinnlich greifbarer, wirk- licher Dinge scheidet«. 2) Für die Kunst gilt dasselbe, was für den einzelnen Menschen gilt: man kann wohl in Gedanken ein Inneres und ein Äusseres unterscheiden, in der Praxis ist es aber undurch- führbar; denn wir kennen kein Inneres, das nicht einzig und allein in einem Äusseren gegeben würde. Ja, von dem Kunstwerk können wir mit Sicherheit behaupten, es bestehe zunächst lediglich aus einem Äusseren. Ich erinnere an die S. 55 besprochenen Worte Schiller’s: das Schöne ist zwar »Leben«, sofern es in uns Gefühle, d. h. Thaten erregt, zunächst ist es jedoch lediglich »Form«, die wir »betrachten«. Erlebe ich nun bei dem Anblick von Michelangelo’s Nacht und Abend- dämmerung eine so tief innerliche und zugleich so intensive Erregung, dass ich sie nur mit dem Eindruck berückender Musik vergleichen kann, so ist das, wie Schiller sagt, »meine That«; nicht jede Seele Der Naturalismus. 1) The Renaissance, studies in art and poetry. 2) Aufsatz The Opera in den Miscellaneous Essays.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 989. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/468>, abgerufen am 15.06.2024.