Hieran reiht sich nun die sehr wichtige Einsicht Lessing's, dass Dichtkunst und Tonkunst eine einzige Kunst sind, dass sie zusammen erst eigentliche Poesie ausmachen. Das ist der springende Punkt für das Verständnis unserer germanischen Kunst -- auch der bildenden; wer achtlos daran vorübergeht, wird nie ins Reine kommen. Zu dem vorhin Gesagten (S. 959 fg.) muss ich hier nur einiges Wenige als un- entbehrliche Ergänzung hinzufügen.
Die germanische Tonkunst.
Wo immer wir bei Indoeuropäern eine entwickelte, schöpferische Dichtkunst antreffen, da finden wir eine entwickelte Tonkunst, und zwar mit jener innig verschmolzen. Von den arischen Indern will ich nur drei Züge erwähnen. Der sagenhafte Erfinder der bei ihnen am meisten gepflegten Kunstgattung, nämlich des Dramas, Bharata, gilt zugleich als Verfasser der Grundlage des musikalischen Unterrichts, denn Musik war in Indien ein integrierender Bestandteil der drama- tischen Werke; die lyrischen Dichter pflegten ihren Versen die Melodie beizugeben, wo sie aber das nicht thaten, fügten sie wenigstens hinzu, in welcher Tonart jedes Gedicht vorzutragen sei. Diese zwei Züge sind beredt genug, ein dritter veranschaulicht die Entwickelung der Technik. Die in ganz Europa früher übliche Bezeichnung der Skala do, re, mi u. s. w. stammt aus Indien, vermittelt durch Eranien. Man sieht, wie innig verwoben Tonkunst und Dichtkunst war, und welche Rolle die Kenntnis der Musik im Leben spielte.1) Über die Musik der Hellenen brauche ich nichts hinzuzufügen. Herder sagt: "Bei den Griechen waren Poesie und Musik nur ein Werk, eine Blüte des mensch- lichen Geistes",2) und an einer anderen Stelle: "Das griechische Theater war Gesang; dazu war alles eingerichtet; und wer dies nicht ver- nommen hat, der hat vom griechischen Theater nichts gehört".3) Dagegen, wo es keine Dichtkunst gab, wie bei den alten Römern, da fehlte es ebenfalls ganz an Musik. In später Stunde bekamen sie für beides ein Surrogat, und da erwähnt Ambros als besonders bezeichnend den Umstand, dass das Hauptinstrument der römischen Musik die Pfeife war, wogegen bei den Indern seit den ältesten vedischen Zeiten Harfen, Lauten und andere Saiteninstrumente den Grundstock bildeten: hiermit ist eigentlich schon Alles gesagt. Ambros führt aus, wie die Römer nie mehr von der Musik verlangt hätten, als dass "es sich gut
1) Vergl. Schröder: Indiens Litteratur und Kultur, Vorlesung 3 und 50, und Ambros: Geschichte der Musik, I. Buch 1.
2)Ideen zur Geschichte der Menschheit, Buch 13, Abschn. 2.
3)Nachlese zur Adrastea, 1.
Die Entstehung einer neuen Welt.
Hieran reiht sich nun die sehr wichtige Einsicht Lessing’s, dass Dichtkunst und Tonkunst eine einzige Kunst sind, dass sie zusammen erst eigentliche Poesie ausmachen. Das ist der springende Punkt für das Verständnis unserer germanischen Kunst — auch der bildenden; wer achtlos daran vorübergeht, wird nie ins Reine kommen. Zu dem vorhin Gesagten (S. 959 fg.) muss ich hier nur einiges Wenige als un- entbehrliche Ergänzung hinzufügen.
Die germanische Tonkunst.
Wo immer wir bei Indoeuropäern eine entwickelte, schöpferische Dichtkunst antreffen, da finden wir eine entwickelte Tonkunst, und zwar mit jener innig verschmolzen. Von den arischen Indern will ich nur drei Züge erwähnen. Der sagenhafte Erfinder der bei ihnen am meisten gepflegten Kunstgattung, nämlich des Dramas, Bharata, gilt zugleich als Verfasser der Grundlage des musikalischen Unterrichts, denn Musik war in Indien ein integrierender Bestandteil der drama- tischen Werke; die lyrischen Dichter pflegten ihren Versen die Melodie beizugeben, wo sie aber das nicht thaten, fügten sie wenigstens hinzu, in welcher Tonart jedes Gedicht vorzutragen sei. Diese zwei Züge sind beredt genug, ein dritter veranschaulicht die Entwickelung der Technik. Die in ganz Europa früher übliche Bezeichnung der Skala do, re, mi u. s. w. stammt aus Indien, vermittelt durch Eranien. Man sieht, wie innig verwoben Tonkunst und Dichtkunst war, und welche Rolle die Kenntnis der Musik im Leben spielte.1) Über die Musik der Hellenen brauche ich nichts hinzuzufügen. Herder sagt: »Bei den Griechen waren Poesie und Musik nur ein Werk, eine Blüte des mensch- lichen Geistes«,2) und an einer anderen Stelle: »Das griechische Theater war Gesang; dazu war alles eingerichtet; und wer dies nicht ver- nommen hat, der hat vom griechischen Theater nichts gehört«.3) Dagegen, wo es keine Dichtkunst gab, wie bei den alten Römern, da fehlte es ebenfalls ganz an Musik. In später Stunde bekamen sie für beides ein Surrogat, und da erwähnt Ambros als besonders bezeichnend den Umstand, dass das Hauptinstrument der römischen Musik die Pfeife war, wogegen bei den Indern seit den ältesten vedischen Zeiten Harfen, Lauten und andere Saiteninstrumente den Grundstock bildeten: hiermit ist eigentlich schon Alles gesagt. Ambros führt aus, wie die Römer nie mehr von der Musik verlangt hätten, als dass »es sich gut
1) Vergl. Schröder: Indiens Litteratur und Kultur, Vorlesung 3 und 50, und Ambros: Geschichte der Musik, I. Buch 1.
2)Ideen zur Geschichte der Menschheit, Buch 13, Abschn. 2.
3)Nachlese zur Adrastea, 1.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
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Dichtkunst und Tonkunst eine einzige Kunst sind, dass sie zusammen
erst eigentliche Poesie ausmachen. Das ist der springende Punkt für
das Verständnis unserer germanischen Kunst — auch der bildenden;
wer achtlos daran vorübergeht, wird nie ins Reine kommen. Zu dem
vorhin Gesagten (S. 959 fg.) muss ich hier nur einiges Wenige als un-
entbehrliche Ergänzung hinzufügen.
Wo immer wir bei Indoeuropäern eine entwickelte, schöpferische
Dichtkunst antreffen, da finden wir eine entwickelte Tonkunst, und
zwar mit jener innig verschmolzen. Von den arischen Indern will
ich nur drei Züge erwähnen. Der sagenhafte Erfinder der bei ihnen
am meisten gepflegten Kunstgattung, nämlich des Dramas, Bharata,
gilt zugleich als Verfasser der Grundlage des musikalischen Unterrichts,
denn Musik war in Indien ein integrierender Bestandteil der drama-
tischen Werke; die lyrischen Dichter pflegten ihren Versen die Melodie
beizugeben, wo sie aber das nicht thaten, fügten sie wenigstens hinzu,
in welcher Tonart jedes Gedicht vorzutragen sei. Diese zwei Züge
sind beredt genug, ein dritter veranschaulicht die Entwickelung der
Technik. Die in ganz Europa früher übliche Bezeichnung der Skala
do, re, mi u. s. w. stammt aus Indien, vermittelt durch Eranien. Man
sieht, wie innig verwoben Tonkunst und Dichtkunst war, und welche
Rolle die Kenntnis der Musik im Leben spielte. 1) Über die Musik
der Hellenen brauche ich nichts hinzuzufügen. Herder sagt: »Bei den
Griechen waren Poesie und Musik nur ein Werk, eine Blüte des mensch-
lichen Geistes«, 2) und an einer anderen Stelle: »Das griechische Theater
war Gesang; dazu war alles eingerichtet; und wer dies nicht ver-
nommen hat, der hat vom griechischen Theater nichts gehört«. 3)
Dagegen, wo es keine Dichtkunst gab, wie bei den alten Römern, da
fehlte es ebenfalls ganz an Musik. In später Stunde bekamen sie für
beides ein Surrogat, und da erwähnt Ambros als besonders bezeichnend
den Umstand, dass das Hauptinstrument der römischen Musik die
Pfeife war, wogegen bei den Indern seit den ältesten vedischen Zeiten
Harfen, Lauten und andere Saiteninstrumente den Grundstock bildeten:
hiermit ist eigentlich schon Alles gesagt. Ambros führt aus, wie die
Römer nie mehr von der Musik verlangt hätten, als dass »es sich gut
1) Vergl. Schröder: Indiens Litteratur und Kultur, Vorlesung 3 und 50, und
Ambros: Geschichte der Musik, I. Buch 1.
2) Ideen zur Geschichte der Menschheit, Buch 13, Abschn. 2.
3) Nachlese zur Adrastea, 1.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 976. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/455>, abgerufen am 22.11.2024.
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