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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
sächliche Erfahrung bestimmter menschlicher Gestalten;1) mit Buddha
und mit Christus ist Religion realistisch geworden (eine Thatsache,
welche von den Religionsphilosophen regelmässig übersehen wird und
noch nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist). Doch, was diese
Männer erfuhren und was wir durch sie erfahren, ist nicht ein mechanisch
"Reales", sondern ein weit Realeres als dies, ein Erlebnis des innersten
Wesens. Und zwar ist uns dieser Sachverhalt erst jetzt, erst im Lichte
unserer eigenen neuen Weltanschauung, ganz klar geworden; jetzt
erst -- wo der lückenlose Mechanismus aller Erscheinung unwider-
sprechlich dargethan ist -- vermögen wir es, die Religion auch von
der letzten Spur von Materialismus zu säubern. Dadurch wird aber
die Kunst immer unentbehrlicher. Denn was eine Gestalt wie Jesus
Christus bedeutet, was sie offenbart, lässt sich nicht in Worten aus-
sprechen; es ist ja das Innere, das Zeit- und Raumlose, durch keine
rein logische Gedankenkette erschöpfend oder auch nur adäquat Aus-
zudrückende; es handelt sich bei Jesus Christus lediglich um jene
"Natur, die einem Willen unterworfen ist" (wie Kant sich ausdrückte,
S. 936), nicht um jene, welche den Willen sich unterwirft, d. h. also,
es handelt sich um jene Natur, in welcher der Künstler zu Hause ist
und von wo aus er allein es versteht, eine Brücke in die Welt der
Erscheinung hinüber zu schlagen. Die Kunst des Genies zwingt das
Sichtbare dem Unsichtbaren zu dienen.2) Nun ist aber an Jesus
Christus die leibliche Erscheinung (zu welcher auch das ganze
irdische Leben gehört) das Sichtbare und insofern eine gewisser-
massen nur allegorische Darstellung des unsichtbaren Wesens; doch
ist diese Allegorie unentbehrlich, denn die erfahrene Persönlichkeit
war es ja -- nicht ein Dogma, nicht ein System, beileibe nicht der
Gedanke, hier ginge ein hypostasierter Logos in Fleisch und Blut
herum -- welche den unvergleichlichen Eindruck hervorgebracht und
viele Menschen innerlich völlig umgewandelt hatte; mit dem Tode
schwand die Persönlichkeit -- also das einzig Wirksame -- dahin;
was bleibt ist Fragment und Schema. Damit das wunderwirkende
Beispiel (S. 196) weiter bestehe, damit die christliche Religion nicht
ihren Charakter als thatsächliche, wirkliche Erfahrung verliere, muss die

1) Siehe das ganze Kapitel 3, namentlich S. 195 fg.
2) Das ist nicht ästhetische Theorie, sondern das Erlebnis der schaffenden
Künstler. So sagt z. B. Eugene Fromentin in seinem exquisiten, doch ganz fach-
mässigen Buche Les Maeitres d'autrefois (ed. 7. p. 2.): "L'art de peindre est l'art
d'exprimer l'invisible par le visible
".

Kunst.
sächliche Erfahrung bestimmter menschlicher Gestalten;1) mit Buddha
und mit Christus ist Religion realistisch geworden (eine Thatsache,
welche von den Religionsphilosophen regelmässig übersehen wird und
noch nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist). Doch, was diese
Männer erfuhren und was wir durch sie erfahren, ist nicht ein mechanisch
»Reales«, sondern ein weit Realeres als dies, ein Erlebnis des innersten
Wesens. Und zwar ist uns dieser Sachverhalt erst jetzt, erst im Lichte
unserer eigenen neuen Weltanschauung, ganz klar geworden; jetzt
erst — wo der lückenlose Mechanismus aller Erscheinung unwider-
sprechlich dargethan ist — vermögen wir es, die Religion auch von
der letzten Spur von Materialismus zu säubern. Dadurch wird aber
die Kunst immer unentbehrlicher. Denn was eine Gestalt wie Jesus
Christus bedeutet, was sie offenbart, lässt sich nicht in Worten aus-
sprechen; es ist ja das Innere, das Zeit- und Raumlose, durch keine
rein logische Gedankenkette erschöpfend oder auch nur adäquat Aus-
zudrückende; es handelt sich bei Jesus Christus lediglich um jene
»Natur, die einem Willen unterworfen ist« (wie Kant sich ausdrückte,
S. 936), nicht um jene, welche den Willen sich unterwirft, d. h. also,
es handelt sich um jene Natur, in welcher der Künstler zu Hause ist
und von wo aus er allein es versteht, eine Brücke in die Welt der
Erscheinung hinüber zu schlagen. Die Kunst des Genies zwingt das
Sichtbare dem Unsichtbaren zu dienen.2) Nun ist aber an Jesus
Christus die leibliche Erscheinung (zu welcher auch das ganze
irdische Leben gehört) das Sichtbare und insofern eine gewisser-
massen nur allegorische Darstellung des unsichtbaren Wesens; doch
ist diese Allegorie unentbehrlich, denn die erfahrene Persönlichkeit
war es ja — nicht ein Dogma, nicht ein System, beileibe nicht der
Gedanke, hier ginge ein hypostasierter Logos in Fleisch und Blut
herum — welche den unvergleichlichen Eindruck hervorgebracht und
viele Menschen innerlich völlig umgewandelt hatte; mit dem Tode
schwand die Persönlichkeit — also das einzig Wirksame — dahin;
was bleibt ist Fragment und Schema. Damit das wunderwirkende
Beispiel (S. 196) weiter bestehe, damit die christliche Religion nicht
ihren Charakter als thatsächliche, wirkliche Erfahrung verliere, muss die

1) Siehe das ganze Kapitel 3, namentlich S. 195 fg.
2) Das ist nicht ästhetische Theorie, sondern das Erlebnis der schaffenden
Künstler. So sagt z. B. Eugène Fromentin in seinem exquisiten, doch ganz fach-
mässigen Buche Les Maîtres d’autrefois (éd. 7. p. 2.): »L’art de peindre est l’art
d’exprimer l’invisible par le visible
«.
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[951/0430] Kunst. sächliche Erfahrung bestimmter menschlicher Gestalten; 1) mit Buddha und mit Christus ist Religion realistisch geworden (eine Thatsache, welche von den Religionsphilosophen regelmässig übersehen wird und noch nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist). Doch, was diese Männer erfuhren und was wir durch sie erfahren, ist nicht ein mechanisch »Reales«, sondern ein weit Realeres als dies, ein Erlebnis des innersten Wesens. Und zwar ist uns dieser Sachverhalt erst jetzt, erst im Lichte unserer eigenen neuen Weltanschauung, ganz klar geworden; jetzt erst — wo der lückenlose Mechanismus aller Erscheinung unwider- sprechlich dargethan ist — vermögen wir es, die Religion auch von der letzten Spur von Materialismus zu säubern. Dadurch wird aber die Kunst immer unentbehrlicher. Denn was eine Gestalt wie Jesus Christus bedeutet, was sie offenbart, lässt sich nicht in Worten aus- sprechen; es ist ja das Innere, das Zeit- und Raumlose, durch keine rein logische Gedankenkette erschöpfend oder auch nur adäquat Aus- zudrückende; es handelt sich bei Jesus Christus lediglich um jene »Natur, die einem Willen unterworfen ist« (wie Kant sich ausdrückte, S. 936), nicht um jene, welche den Willen sich unterwirft, d. h. also, es handelt sich um jene Natur, in welcher der Künstler zu Hause ist und von wo aus er allein es versteht, eine Brücke in die Welt der Erscheinung hinüber zu schlagen. Die Kunst des Genies zwingt das Sichtbare dem Unsichtbaren zu dienen. 2) Nun ist aber an Jesus Christus die leibliche Erscheinung (zu welcher auch das ganze irdische Leben gehört) das Sichtbare und insofern eine gewisser- massen nur allegorische Darstellung des unsichtbaren Wesens; doch ist diese Allegorie unentbehrlich, denn die erfahrene Persönlichkeit war es ja — nicht ein Dogma, nicht ein System, beileibe nicht der Gedanke, hier ginge ein hypostasierter Logos in Fleisch und Blut herum — welche den unvergleichlichen Eindruck hervorgebracht und viele Menschen innerlich völlig umgewandelt hatte; mit dem Tode schwand die Persönlichkeit — also das einzig Wirksame — dahin; was bleibt ist Fragment und Schema. Damit das wunderwirkende Beispiel (S. 196) weiter bestehe, damit die christliche Religion nicht ihren Charakter als thatsächliche, wirkliche Erfahrung verliere, muss die 1) Siehe das ganze Kapitel 3, namentlich S. 195 fg. 2) Das ist nicht ästhetische Theorie, sondern das Erlebnis der schaffenden Künstler. So sagt z. B. Eugène Fromentin in seinem exquisiten, doch ganz fach- mässigen Buche Les Maîtres d’autrefois (éd. 7. p. 2.): »L’art de peindre est l’art d’exprimer l’invisible par le visible«.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 951. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/430>, abgerufen am 22.11.2024.