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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.

Eine allgemeine Geschichte der Kunst behandelt heute jegliche
bildnerische Technik, von der Architektur bis zur Zinngiesserei; in
einem derartigen Werke findet man Abbildungen von Biertopfdeckeln
und Stuhllehnen, daneben Michelangelo's Jüngstes Gericht und ein
Selbstbildnis von Rembrandt. Zwei Künste fehlen jedoch ganz und gar,
von ihnen ist keine Rede, sie sind, wie es scheint, "keine Kunst":
es sind jene zwei, von denen Kant sagt, sie nähmen "den obersten
Rang" ein unter allen Künsten, und über die Lessing die unendlich
feinsinnige Bemerkung gemacht hat: "die Natur hat sie nicht sowohl
zur Verbindung, als vielmehr zu einer und ebenderselben Kunst be-
stimmt"1) -- Dichtkunst und Tonkunst. Diese Auffassung des
Begriffes "Kunst" seitens unserer Kunsthistoriker ist geradezu empörend;
sie vernichtet das Lebenswerk der Lessing, Herder, Schiller, Goethe,
welche gerade die organische Einheit alles schöpferischen Menschentums
und das Primat des Dichters unter seinen Genossen klarzustellen be-
müht waren. Vom Laokoon an bis zur ästhetischen Erziehung und
bis zu den Gedanken über die Rolle der Kunst "als würdigste Aus-
legerin der Natur",2) zieht sich wie ein roter Faden durch alles Denken
der deutschen Klassiker das eine grosse Bestreben, das Wesen der
Kunst,
als eines besonderen menschlichen Vermögens deutlich und
bestimmt begrenzt hinzustellen, womit zugleich die Würde der
Kunst,
als einer höchsten und heiligsten Befähigung zur Verklärung
des ganzen Lebens und Denkens der Menschen gegeben ist. Und nun
kommen unsere Gelehrten und greifen wieder zu Lucian's Auffassung
der Kunst:3) die Kunst ist für sie eine Technik, ein Handwerk, und
da die Arbeit der Hände in Dichtung und Musik nichts zu bedeuten
hat, so werden diese zur Kunst nicht mitgerechnet, sondern "Kunst" ist
ausschliesslich die bildende Kunst, dafür aber jegliche bildende Thätig-
keit, jede manuum factura, jede Herstellung von Artefakten! Der Begriff
wird also nicht allein von ihnen in widersinniger Weise beschränkt,
sondern auch in unsinniger Weise zu einem Synonym mit Technik
erweitert. Dabei geht die Hauptsache, das einzige, worauf es bei der
Kunst ankommt -- der Begriff des Schöpferischen -- ganz verloren.4)

1) Zum Laokoon, IX.
2) Goethe: Maximen und Reflexionen, 3. Abteilung.
3) Siehe S. 299.
4) Man vergl. die Ausführungen über Technik im Gegensatz zu Kunst und
Wissenschaft, S. 158.
Kunst.

Eine allgemeine Geschichte der Kunst behandelt heute jegliche
bildnerische Technik, von der Architektur bis zur Zinngiesserei; in
einem derartigen Werke findet man Abbildungen von Biertopfdeckeln
und Stuhllehnen, daneben Michelangelo’s Jüngstes Gericht und ein
Selbstbildnis von Rembrandt. Zwei Künste fehlen jedoch ganz und gar,
von ihnen ist keine Rede, sie sind, wie es scheint, »keine Kunst«:
es sind jene zwei, von denen Kant sagt, sie nähmen »den obersten
Rang« ein unter allen Künsten, und über die Lessing die unendlich
feinsinnige Bemerkung gemacht hat: »die Natur hat sie nicht sowohl
zur Verbindung, als vielmehr zu einer und ebenderselben Kunst be-
stimmt«1)Dichtkunst und Tonkunst. Diese Auffassung des
Begriffes »Kunst« seitens unserer Kunsthistoriker ist geradezu empörend;
sie vernichtet das Lebenswerk der Lessing, Herder, Schiller, Goethe,
welche gerade die organische Einheit alles schöpferischen Menschentums
und das Primat des Dichters unter seinen Genossen klarzustellen be-
müht waren. Vom Laokoon an bis zur ästhetischen Erziehung und
bis zu den Gedanken über die Rolle der Kunst »als würdigste Aus-
legerin der Natur«,2) zieht sich wie ein roter Faden durch alles Denken
der deutschen Klassiker das eine grosse Bestreben, das Wesen der
Kunst,
als eines besonderen menschlichen Vermögens deutlich und
bestimmt begrenzt hinzustellen, womit zugleich die Würde der
Kunst,
als einer höchsten und heiligsten Befähigung zur Verklärung
des ganzen Lebens und Denkens der Menschen gegeben ist. Und nun
kommen unsere Gelehrten und greifen wieder zu Lucian’s Auffassung
der Kunst:3) die Kunst ist für sie eine Technik, ein Handwerk, und
da die Arbeit der Hände in Dichtung und Musik nichts zu bedeuten
hat, so werden diese zur Kunst nicht mitgerechnet, sondern »Kunst« ist
ausschliesslich die bildende Kunst, dafür aber jegliche bildende Thätig-
keit, jede manuum factura, jede Herstellung von Artefakten! Der Begriff
wird also nicht allein von ihnen in widersinniger Weise beschränkt,
sondern auch in unsinniger Weise zu einem Synonym mit Technik
erweitert. Dabei geht die Hauptsache, das einzige, worauf es bei der
Kunst ankommt — der Begriff des Schöpferischen — ganz verloren.4)

1) Zum Laokoon, IX.
2) Goethe: Maximen und Reflexionen, 3. Abteilung.
3) Siehe S. 299.
4) Man vergl. die Ausführungen über Technik im Gegensatz zu Kunst und
Wissenschaft, S. 158.
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[947/0426] Kunst. Eine allgemeine Geschichte der Kunst behandelt heute jegliche bildnerische Technik, von der Architektur bis zur Zinngiesserei; in einem derartigen Werke findet man Abbildungen von Biertopfdeckeln und Stuhllehnen, daneben Michelangelo’s Jüngstes Gericht und ein Selbstbildnis von Rembrandt. Zwei Künste fehlen jedoch ganz und gar, von ihnen ist keine Rede, sie sind, wie es scheint, »keine Kunst«: es sind jene zwei, von denen Kant sagt, sie nähmen »den obersten Rang« ein unter allen Künsten, und über die Lessing die unendlich feinsinnige Bemerkung gemacht hat: »die Natur hat sie nicht sowohl zur Verbindung, als vielmehr zu einer und ebenderselben Kunst be- stimmt« 1) — Dichtkunst und Tonkunst. Diese Auffassung des Begriffes »Kunst« seitens unserer Kunsthistoriker ist geradezu empörend; sie vernichtet das Lebenswerk der Lessing, Herder, Schiller, Goethe, welche gerade die organische Einheit alles schöpferischen Menschentums und das Primat des Dichters unter seinen Genossen klarzustellen be- müht waren. Vom Laokoon an bis zur ästhetischen Erziehung und bis zu den Gedanken über die Rolle der Kunst »als würdigste Aus- legerin der Natur«, 2) zieht sich wie ein roter Faden durch alles Denken der deutschen Klassiker das eine grosse Bestreben, das Wesen der Kunst, als eines besonderen menschlichen Vermögens deutlich und bestimmt begrenzt hinzustellen, womit zugleich die Würde der Kunst, als einer höchsten und heiligsten Befähigung zur Verklärung des ganzen Lebens und Denkens der Menschen gegeben ist. Und nun kommen unsere Gelehrten und greifen wieder zu Lucian’s Auffassung der Kunst: 3) die Kunst ist für sie eine Technik, ein Handwerk, und da die Arbeit der Hände in Dichtung und Musik nichts zu bedeuten hat, so werden diese zur Kunst nicht mitgerechnet, sondern »Kunst« ist ausschliesslich die bildende Kunst, dafür aber jegliche bildende Thätig- keit, jede manuum factura, jede Herstellung von Artefakten! Der Begriff wird also nicht allein von ihnen in widersinniger Weise beschränkt, sondern auch in unsinniger Weise zu einem Synonym mit Technik erweitert. Dabei geht die Hauptsache, das einzige, worauf es bei der Kunst ankommt — der Begriff des Schöpferischen — ganz verloren. 4) 1) Zum Laokoon, IX. 2) Goethe: Maximen und Reflexionen, 3. Abteilung. 3) Siehe S. 299. 4) Man vergl. die Ausführungen über Technik im Gegensatz zu Kunst und Wissenschaft, S. 158.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 947. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/426>, abgerufen am 22.11.2024.