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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Das war scholastische Erbschaft. Wer sagte ihnen denn, dass die
Natur würde begriffen, würde erklärt werden können? Thomas von
Aquin, ja, der kann das, denn er geht von diesem Dogma aus. Doch
wie kommt der Mathematiker Descartes dazu, der behauptet hat, jede
überkommene Meinung aus seinem Kopf verbannen zu wollen? Wie
kommt John Locke, gentleman, dazu, der am Eingang seiner Unter-
suchung erklärt hat, lediglich die Grenzen des Menschenverstandes
feststellen zu wollen? Descartes antwortet: Gott ist kein Betrüger,
folglich muss mein Verstand den Dingen bis auf den Grund sehen;
Locke antwortet: die Vernunft ist göttliche Offenbarung, folglich ist
sie unfehlbar, so weit sie reicht. Das ist nicht echte Naturforschung,
sondern erst ein Anlauf dazu, daher die Lückenhaftigkeit des Ergebnisses.

Im Interesse des nicht metaphysisch gebildeten Lesers habe ich
die damalige Lage unserer jungen, werdenden Weltanschauung von
der negativen Seite gemalt; er wird viel leichter verstehen, was jetzt
geschehen musste, um sie zu retten und zu fördern. Zunächst musste
sie gereinigt werden, gereinigt von den letzten Spuren fremder Bei-
mengungen; sodann musste der naturforschende Philosoph den vollen
Mut seiner Überzeugung haben; er musste, wie Columbus, sich
zaglos dem Meere der Natur anvertrauen, und nicht (wie dessen Ma-
trosen) vermeinen, er sei verloren, sobald die Spitze des letzten Kirch-
turms unter dem Horizont verschwände. Dazu jedoch gehörte nicht
allein Mut, wie der tollkühne Hume ihn besass, sondern zugleich das
feierliche Bewusstsein grosser Verantwortung. Wer hat das Recht, die
Menschen aus altgeheiligter Heimat hinwegzuführen? Nur wer die
Macht besitzt, sie zu einer neuen Heimat hinzuleiten. Darum konnte
das Werk einzig von einem Immanuel Kant ausgeführt werden, einem
Manne, der nicht allein phänomenale Geistesgaben besass, sondern einen
mindestens ebenso hervorragenden sittlichen Charakter. Kant ist der
wahre rocher de bronze unserer neuen Weltanschauung. Ob man im
Einzelnen mit seinen philosophischen Ausführungen übereinstimmt, ist
völlig nebensächlich; er allein besass die Kraft, uns loszureissen, er allein
besass die moralische Berechtigung dazu, er, dessen langes Leben in
fleckenloser Ehrenhaftigkeit, strenger Selbstbeherrschung, völliger Hin-
gabe an ein für heilig erkanntes Ziel verlief. Anfangs der Zwanziger
schrieb er: "Ich stehe in der Einbildung, es sei zuweilen nicht unnütz,
ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu setzen. Hierauf
gründe ich mich. Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die
ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll

59*

Weltanschauung und Religion.
Das war scholastische Erbschaft. Wer sagte ihnen denn, dass die
Natur würde begriffen, würde erklärt werden können? Thomas von
Aquin, ja, der kann das, denn er geht von diesem Dogma aus. Doch
wie kommt der Mathematiker Descartes dazu, der behauptet hat, jede
überkommene Meinung aus seinem Kopf verbannen zu wollen? Wie
kommt John Locke, gentleman, dazu, der am Eingang seiner Unter-
suchung erklärt hat, lediglich die Grenzen des Menschenverstandes
feststellen zu wollen? Descartes antwortet: Gott ist kein Betrüger,
folglich muss mein Verstand den Dingen bis auf den Grund sehen;
Locke antwortet: die Vernunft ist göttliche Offenbarung, folglich ist
sie unfehlbar, so weit sie reicht. Das ist nicht echte Naturforschung,
sondern erst ein Anlauf dazu, daher die Lückenhaftigkeit des Ergebnisses.

Im Interesse des nicht metaphysisch gebildeten Lesers habe ich
die damalige Lage unserer jungen, werdenden Weltanschauung von
der negativen Seite gemalt; er wird viel leichter verstehen, was jetzt
geschehen musste, um sie zu retten und zu fördern. Zunächst musste
sie gereinigt werden, gereinigt von den letzten Spuren fremder Bei-
mengungen; sodann musste der naturforschende Philosoph den vollen
Mut seiner Überzeugung haben; er musste, wie Columbus, sich
zaglos dem Meere der Natur anvertrauen, und nicht (wie dessen Ma-
trosen) vermeinen, er sei verloren, sobald die Spitze des letzten Kirch-
turms unter dem Horizont verschwände. Dazu jedoch gehörte nicht
allein Mut, wie der tollkühne Hume ihn besass, sondern zugleich das
feierliche Bewusstsein grosser Verantwortung. Wer hat das Recht, die
Menschen aus altgeheiligter Heimat hinwegzuführen? Nur wer die
Macht besitzt, sie zu einer neuen Heimat hinzuleiten. Darum konnte
das Werk einzig von einem Immanuel Kant ausgeführt werden, einem
Manne, der nicht allein phänomenale Geistesgaben besass, sondern einen
mindestens ebenso hervorragenden sittlichen Charakter. Kant ist der
wahre rocher de bronze unserer neuen Weltanschauung. Ob man im
Einzelnen mit seinen philosophischen Ausführungen übereinstimmt, ist
völlig nebensächlich; er allein besass die Kraft, uns loszureissen, er allein
besass die moralische Berechtigung dazu, er, dessen langes Leben in
fleckenloser Ehrenhaftigkeit, strenger Selbstbeherrschung, völliger Hin-
gabe an ein für heilig erkanntes Ziel verlief. Anfangs der Zwanziger
schrieb er: »Ich stehe in der Einbildung, es sei zuweilen nicht unnütz,
ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu setzen. Hierauf
gründe ich mich. Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die
ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll

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[923/0402] Weltanschauung und Religion. Das war scholastische Erbschaft. Wer sagte ihnen denn, dass die Natur würde begriffen, würde erklärt werden können? Thomas von Aquin, ja, der kann das, denn er geht von diesem Dogma aus. Doch wie kommt der Mathematiker Descartes dazu, der behauptet hat, jede überkommene Meinung aus seinem Kopf verbannen zu wollen? Wie kommt John Locke, gentleman, dazu, der am Eingang seiner Unter- suchung erklärt hat, lediglich die Grenzen des Menschenverstandes feststellen zu wollen? Descartes antwortet: Gott ist kein Betrüger, folglich muss mein Verstand den Dingen bis auf den Grund sehen; Locke antwortet: die Vernunft ist göttliche Offenbarung, folglich ist sie unfehlbar, so weit sie reicht. Das ist nicht echte Naturforschung, sondern erst ein Anlauf dazu, daher die Lückenhaftigkeit des Ergebnisses. Im Interesse des nicht metaphysisch gebildeten Lesers habe ich die damalige Lage unserer jungen, werdenden Weltanschauung von der negativen Seite gemalt; er wird viel leichter verstehen, was jetzt geschehen musste, um sie zu retten und zu fördern. Zunächst musste sie gereinigt werden, gereinigt von den letzten Spuren fremder Bei- mengungen; sodann musste der naturforschende Philosoph den vollen Mut seiner Überzeugung haben; er musste, wie Columbus, sich zaglos dem Meere der Natur anvertrauen, und nicht (wie dessen Ma- trosen) vermeinen, er sei verloren, sobald die Spitze des letzten Kirch- turms unter dem Horizont verschwände. Dazu jedoch gehörte nicht allein Mut, wie der tollkühne Hume ihn besass, sondern zugleich das feierliche Bewusstsein grosser Verantwortung. Wer hat das Recht, die Menschen aus altgeheiligter Heimat hinwegzuführen? Nur wer die Macht besitzt, sie zu einer neuen Heimat hinzuleiten. Darum konnte das Werk einzig von einem Immanuel Kant ausgeführt werden, einem Manne, der nicht allein phänomenale Geistesgaben besass, sondern einen mindestens ebenso hervorragenden sittlichen Charakter. Kant ist der wahre rocher de bronze unserer neuen Weltanschauung. Ob man im Einzelnen mit seinen philosophischen Ausführungen übereinstimmt, ist völlig nebensächlich; er allein besass die Kraft, uns loszureissen, er allein besass die moralische Berechtigung dazu, er, dessen langes Leben in fleckenloser Ehrenhaftigkeit, strenger Selbstbeherrschung, völliger Hin- gabe an ein für heilig erkanntes Ziel verlief. Anfangs der Zwanziger schrieb er: »Ich stehe in der Einbildung, es sei zuweilen nicht unnütz, ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu setzen. Hierauf gründe ich mich. Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll 59*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 923. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/402>, abgerufen am 22.11.2024.