Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Weltanschauung und Religion. Dies gilt namentlich von der Religion; diese Philosophen lassen sieaus dem Spiele, d. h. sie reden von ihr, betrachten sie aber als eine Sache für sich, die ausserhalb der gesamten Wissenschaft zu stehen habe, als etwas für den Menschen freilich Wesentliches, für die Natur- erkenntnis aber durchaus Accessorisches. Wer hierin bloss das Be- fangensein in kirchlichen Ideen erblicken wollte, würde oberflächlich urteilen; im Gegenteil, der Fehler ist viel eher eine Geringschätzung des religiösen Elementes. Denn dieses von ihnen fast gar nicht be- achtete "Etwas" umfasst den wichtigsten Teil ihrer eigenen mensch- lichen Persönlichkeit, nämlich das Allerunmittelbarste ihrer Erfahrungen und daher sicherlich einen bedeutsamen Bruchteil der Natur. Die tiefsten Beobachtungen schieben sie einfach bei Seite, sobald sie nicht wissen, wo sie dieselben in ihrem empirischen und logischen System einreihen sollen. So besitzt Locke z. B. ein so lebhaftes Verständnis für den Wert der intuitiven oder anschaulichen Er- kenntnis, dass er in dieser Beziehung geradezu ein Vorläufer Schopen- hauer's genannt werden könnte: er nennt die Intuition, "den hellen Sonnenschein" des Menschengeistes; ein Wissen, meint er, besitze nur insofern Wert, als es sich auf unmittelbare Anschauung (d. h. wie Locke ausdrücklich erklärt "eine Anschauung, welche ohne vermit- telndes Urteil gewonnen wird") direkt oder indirekt zurückführen lasse. Und wie wird diese "Wahrheitsquelle, welcher mehr bindende Über- zeugungskraft zu eigen ist als allen Schlüssen der Vernunft" (so spricht Locke) im Zusammenhang der Untersuchung verwertet? Gar nicht. Nicht einmal die klare Einsicht, dass die Mathematik hierher gehört, regt zu tieferen Gedanken an, und das Ganze wird schliesslich "den Engeln und den Seelen der Gerechten im zukünftigen Leben" (sic) mit vielen Beglückwünschungen zur weiteren Untersuchung anempfohlen! Uns armen Menschen wird aber gelehrt: "allgemeine und sichere Wahrheiten findet man einzig in den Beziehungen der abstrakten Begriffe"; und das sagt ein naturforschender Philosoph!1) Ebenso ergeht es den moralischen Erkenntnissen. Hier blitzt Locke während eines kurzen Augenblickes sogar als Vorläufer von Kant und dessen sittlicher Autonomie des Menschen auf. Er sagt: "moralische Ideen sind nicht weniger wahr und nicht weniger real, weil wir sie selber geschaffen haben"; man glaubt das grosse Kapitel der inneren Erfahrung aufschlagen zu sehen; doch nein, der Verfasser meint kurz 1) Essay, book 4., ch. 2, § 1 u. 7, ch. 17, § 14, ch. 12, § 7. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 59
Weltanschauung und Religion. Dies gilt namentlich von der Religion; diese Philosophen lassen sieaus dem Spiele, d. h. sie reden von ihr, betrachten sie aber als eine Sache für sich, die ausserhalb der gesamten Wissenschaft zu stehen habe, als etwas für den Menschen freilich Wesentliches, für die Natur- erkenntnis aber durchaus Accessorisches. Wer hierin bloss das Be- fangensein in kirchlichen Ideen erblicken wollte, würde oberflächlich urteilen; im Gegenteil, der Fehler ist viel eher eine Geringschätzung des religiösen Elementes. Denn dieses von ihnen fast gar nicht be- achtete »Etwas« umfasst den wichtigsten Teil ihrer eigenen mensch- lichen Persönlichkeit, nämlich das Allerunmittelbarste ihrer Erfahrungen und daher sicherlich einen bedeutsamen Bruchteil der Natur. Die tiefsten Beobachtungen schieben sie einfach bei Seite, sobald sie nicht wissen, wo sie dieselben in ihrem empirischen und logischen System einreihen sollen. So besitzt Locke z. B. ein so lebhaftes Verständnis für den Wert der intuitiven oder anschaulichen Er- kenntnis, dass er in dieser Beziehung geradezu ein Vorläufer Schopen- hauer’s genannt werden könnte: er nennt die Intuition, »den hellen Sonnenschein« des Menschengeistes; ein Wissen, meint er, besitze nur insofern Wert, als es sich auf unmittelbare Anschauung (d. h. wie Locke ausdrücklich erklärt »eine Anschauung, welche ohne vermit- telndes Urteil gewonnen wird«) direkt oder indirekt zurückführen lasse. Und wie wird diese »Wahrheitsquelle, welcher mehr bindende Über- zeugungskraft zu eigen ist als allen Schlüssen der Vernunft« (so spricht Locke) im Zusammenhang der Untersuchung verwertet? Gar nicht. Nicht einmal die klare Einsicht, dass die Mathematik hierher gehört, regt zu tieferen Gedanken an, und das Ganze wird schliesslich »den Engeln und den Seelen der Gerechten im zukünftigen Leben« (sic) mit vielen Beglückwünschungen zur weiteren Untersuchung anempfohlen! Uns armen Menschen wird aber gelehrt: »allgemeine und sichere Wahrheiten findet man einzig in den Beziehungen der abstrakten Begriffe«; und das sagt ein naturforschender Philosoph!1) Ebenso ergeht es den moralischen Erkenntnissen. Hier blitzt Locke während eines kurzen Augenblickes sogar als Vorläufer von Kant und dessen sittlicher Autonomie des Menschen auf. Er sagt: »moralische Ideen sind nicht weniger wahr und nicht weniger real, weil wir sie selber geschaffen haben«; man glaubt das grosse Kapitel der inneren Erfahrung aufschlagen zu sehen; doch nein, der Verfasser meint kurz 1) Essay, book 4., ch. 2, § 1 u. 7, ch. 17, § 14, ch. 12, § 7. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 59
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Weltanschauung und Religion.
Dies gilt namentlich von der Religion; diese Philosophen lassen sie
aus dem Spiele, d. h. sie reden von ihr, betrachten sie aber als eine
Sache für sich, die ausserhalb der gesamten Wissenschaft zu stehen
habe, als etwas für den Menschen freilich Wesentliches, für die Natur-
erkenntnis aber durchaus Accessorisches. Wer hierin bloss das Be-
fangensein in kirchlichen Ideen erblicken wollte, würde oberflächlich
urteilen; im Gegenteil, der Fehler ist viel eher eine Geringschätzung
des religiösen Elementes. Denn dieses von ihnen fast gar nicht be-
achtete »Etwas« umfasst den wichtigsten Teil ihrer eigenen mensch-
lichen Persönlichkeit, nämlich das Allerunmittelbarste ihrer Erfahrungen
und daher sicherlich einen bedeutsamen Bruchteil der Natur. Die
tiefsten Beobachtungen schieben sie einfach bei Seite, sobald sie
nicht wissen, wo sie dieselben in ihrem empirischen und logischen
System einreihen sollen. So besitzt Locke z. B. ein so lebhaftes
Verständnis für den Wert der intuitiven oder anschaulichen Er-
kenntnis, dass er in dieser Beziehung geradezu ein Vorläufer Schopen-
hauer’s genannt werden könnte: er nennt die Intuition, »den hellen
Sonnenschein« des Menschengeistes; ein Wissen, meint er, besitze
nur insofern Wert, als es sich auf unmittelbare Anschauung (d. h. wie
Locke ausdrücklich erklärt »eine Anschauung, welche ohne vermit-
telndes Urteil gewonnen wird«) direkt oder indirekt zurückführen lasse.
Und wie wird diese »Wahrheitsquelle, welcher mehr bindende Über-
zeugungskraft zu eigen ist als allen Schlüssen der Vernunft« (so spricht
Locke) im Zusammenhang der Untersuchung verwertet? Gar nicht.
Nicht einmal die klare Einsicht, dass die Mathematik hierher gehört,
regt zu tieferen Gedanken an, und das Ganze wird schliesslich »den
Engeln und den Seelen der Gerechten im zukünftigen Leben« (sic) mit
vielen Beglückwünschungen zur weiteren Untersuchung anempfohlen!
Uns armen Menschen wird aber gelehrt: »allgemeine und sichere
Wahrheiten findet man einzig in den Beziehungen der abstrakten
Begriffe«; und das sagt ein naturforschender Philosoph! 1) Ebenso
ergeht es den moralischen Erkenntnissen. Hier blitzt Locke während
eines kurzen Augenblickes sogar als Vorläufer von Kant und dessen
sittlicher Autonomie des Menschen auf. Er sagt: »moralische Ideen
sind nicht weniger wahr und nicht weniger real, weil wir sie selber
geschaffen haben«; man glaubt das grosse Kapitel der inneren
Erfahrung aufschlagen zu sehen; doch nein, der Verfasser meint kurz
1) Essay, book 4., ch. 2, § 1 u. 7, ch. 17, § 14, ch. 12, § 7.
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