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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
worben werden kann.1) Daher ein grosser und interessanter Unterschied
im Ausbau aller echten (mit Ausnahme der semitischen) Religionen je
nach der vorwiegenden Begabung der Völker. Dort, wo das Bildende
und Bildliche vorwiegt (bei den Eraniern und Europäern, in hohem Masse
auch, wie es scheint, bei den Sumero-Akkadiern), tritt die Entartung als
"Sündenfall" ungemein plastisch hervor und wird somit zum Mittelpunkt
jenes Komplexes innerer Mythenbildung, der um die Vorstellung der Er-
lösung sich gruppiert;2) wogegen dort, wo dies nicht der Fall ist (wie
z. B. bei den metaphysisch so hoch beanlagten, als Bildner jedoch mehr
phantasiereichen als formgewaltigen arischen Indern) man nirgends den
Mythus der Entartung bis zur anschaulichen Deutlichkeit ausgeführt,
sondern nur allerhand widersprechende Vorstellungen findet. Andererseits
aber ist die Gnade -- bei uns der schwache Punkt des religiösen Lebens,
für die allermeisten Christen ein blosses konfuses Wort -- die strahlende
Sonne indischen Glaubens; sie bildet dort nicht etwa die Hoffnung,
sondern das siegreiche Erlebnis der Frommen, und steht dadurch so
sehr im Vordergrund alles religiösen Denkens und Fühlens, dass die Er-
örterungen der indischen Weisen über die Gnade (namentlich auch in
ihrem Verhältnis zu den guten Werken) die heftigsten Diskussionen,
welche die christliche Kirche vom Beginn an bis zum heutigen Tage
entzweit haben, im Vergleich fast kindisch und zuallermeist gänzlich
verständnislos erscheinen lassen, wenn man einige wenige Männer --
einen Apostel Paulus, einen Martin Luther -- ausnimmt. Wer etwa
bezweifeln wollte, dass es sich hier um die mythische Gestaltung unaus-
sprechlicher innerer Erfahrungen handle, den würde ich, bezüglich der

1) Zur Etymologie und somit Erläuterung des Wortes Gnade: Grundbe-
deutung "neigen, sich neigen", gothisch "unterstützen", altsächsisch "Huld, Hilfe",
alt-hochdeutsch "Mitleid, Barmherzigkeit, Herablassung", mittel-hochdeutsch "Glück-
seligkeit, Unterstützung, Huld" (nach Kluge: Etymologisches Wörterbuch).
2) Der Mythus der Entartung bildet bekanntlich einen Grundbestandteil des
Vorstellungskreises der uns bis zum Überdruss als "heiter" gepriesenen Griechen.
Wäre ich früher gestorben, wo nicht, dann später geboren!
Denn jetzt lebt ein eisern Geschlecht: und sie werden bei Tage
Nimmer des Elends frei noch des Jammers, aber bei Nacht auch
Leiden sie Qual: und der Sorgen Last ist die Gabe der Götter!
So ruft der "heitere" Hesiod aus (Werke und Tage, Vers 175 fg.). Und er malt
uns ein vergangenes "golden Geschlecht", dem wir das Wenige verdanken sollen,
was unter uns Entarteten noch gut ist, denn als Geister wandeln diese grossen
Männer der Vergangenheit noch in unserer Mitte; vergl. S. 113.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 36

Religion.
worben werden kann.1) Daher ein grosser und interessanter Unterschied
im Ausbau aller echten (mit Ausnahme der semitischen) Religionen je
nach der vorwiegenden Begabung der Völker. Dort, wo das Bildende
und Bildliche vorwiegt (bei den Eraniern und Europäern, in hohem Masse
auch, wie es scheint, bei den Sumero-Akkadiern), tritt die Entartung als
»Sündenfall« ungemein plastisch hervor und wird somit zum Mittelpunkt
jenes Komplexes innerer Mythenbildung, der um die Vorstellung der Er-
lösung sich gruppiert;2) wogegen dort, wo dies nicht der Fall ist (wie
z. B. bei den metaphysisch so hoch beanlagten, als Bildner jedoch mehr
phantasiereichen als formgewaltigen arischen Indern) man nirgends den
Mythus der Entartung bis zur anschaulichen Deutlichkeit ausgeführt,
sondern nur allerhand widersprechende Vorstellungen findet. Andererseits
aber ist die Gnade — bei uns der schwache Punkt des religiösen Lebens,
für die allermeisten Christen ein blosses konfuses Wort — die strahlende
Sonne indischen Glaubens; sie bildet dort nicht etwa die Hoffnung,
sondern das siegreiche Erlebnis der Frommen, und steht dadurch so
sehr im Vordergrund alles religiösen Denkens und Fühlens, dass die Er-
örterungen der indischen Weisen über die Gnade (namentlich auch in
ihrem Verhältnis zu den guten Werken) die heftigsten Diskussionen,
welche die christliche Kirche vom Beginn an bis zum heutigen Tage
entzweit haben, im Vergleich fast kindisch und zuallermeist gänzlich
verständnislos erscheinen lassen, wenn man einige wenige Männer —
einen Apostel Paulus, einen Martin Luther — ausnimmt. Wer etwa
bezweifeln wollte, dass es sich hier um die mythische Gestaltung unaus-
sprechlicher innerer Erfahrungen handle, den würde ich, bezüglich der

1) Zur Etymologie und somit Erläuterung des Wortes Gnade: Grundbe-
deutung »neigen, sich neigen«, gothisch »unterstützen«, altsächsisch »Huld, Hilfe«,
alt-hochdeutsch »Mitleid, Barmherzigkeit, Herablassung«, mittel-hochdeutsch »Glück-
seligkeit, Unterstützung, Huld« (nach Kluge: Etymologisches Wörterbuch).
2) Der Mythus der Entartung bildet bekanntlich einen Grundbestandteil des
Vorstellungskreises der uns bis zum Überdruss als »heiter« gepriesenen Griechen.
Wäre ich früher gestorben, wo nicht, dann später geboren!
Denn jetzt lebt ein eisern Geschlecht: und sie werden bei Tage
Nimmer des Elends frei noch des Jammers, aber bei Nacht auch
Leiden sie Qual: und der Sorgen Last ist die Gabe der Götter!
So ruft der »heitere« Hesiod aus (Werke und Tage, Vers 175 fg.). Und er malt
uns ein vergangenes »golden Geschlecht«, dem wir das Wenige verdanken sollen,
was unter uns Entarteten noch gut ist, denn als Geister wandeln diese grossen
Männer der Vergangenheit noch in unserer Mitte; vergl. S. 113.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 36
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[561/0040] Religion. worben werden kann. 1) Daher ein grosser und interessanter Unterschied im Ausbau aller echten (mit Ausnahme der semitischen) Religionen je nach der vorwiegenden Begabung der Völker. Dort, wo das Bildende und Bildliche vorwiegt (bei den Eraniern und Europäern, in hohem Masse auch, wie es scheint, bei den Sumero-Akkadiern), tritt die Entartung als »Sündenfall« ungemein plastisch hervor und wird somit zum Mittelpunkt jenes Komplexes innerer Mythenbildung, der um die Vorstellung der Er- lösung sich gruppiert; 2) wogegen dort, wo dies nicht der Fall ist (wie z. B. bei den metaphysisch so hoch beanlagten, als Bildner jedoch mehr phantasiereichen als formgewaltigen arischen Indern) man nirgends den Mythus der Entartung bis zur anschaulichen Deutlichkeit ausgeführt, sondern nur allerhand widersprechende Vorstellungen findet. Andererseits aber ist die Gnade — bei uns der schwache Punkt des religiösen Lebens, für die allermeisten Christen ein blosses konfuses Wort — die strahlende Sonne indischen Glaubens; sie bildet dort nicht etwa die Hoffnung, sondern das siegreiche Erlebnis der Frommen, und steht dadurch so sehr im Vordergrund alles religiösen Denkens und Fühlens, dass die Er- örterungen der indischen Weisen über die Gnade (namentlich auch in ihrem Verhältnis zu den guten Werken) die heftigsten Diskussionen, welche die christliche Kirche vom Beginn an bis zum heutigen Tage entzweit haben, im Vergleich fast kindisch und zuallermeist gänzlich verständnislos erscheinen lassen, wenn man einige wenige Männer — einen Apostel Paulus, einen Martin Luther — ausnimmt. Wer etwa bezweifeln wollte, dass es sich hier um die mythische Gestaltung unaus- sprechlicher innerer Erfahrungen handle, den würde ich, bezüglich der 1) Zur Etymologie und somit Erläuterung des Wortes Gnade: Grundbe- deutung »neigen, sich neigen«, gothisch »unterstützen«, altsächsisch »Huld, Hilfe«, alt-hochdeutsch »Mitleid, Barmherzigkeit, Herablassung«, mittel-hochdeutsch »Glück- seligkeit, Unterstützung, Huld« (nach Kluge: Etymologisches Wörterbuch). 2) Der Mythus der Entartung bildet bekanntlich einen Grundbestandteil des Vorstellungskreises der uns bis zum Überdruss als »heiter« gepriesenen Griechen. Wäre ich früher gestorben, wo nicht, dann später geboren! Denn jetzt lebt ein eisern Geschlecht: und sie werden bei Tage Nimmer des Elends frei noch des Jammers, aber bei Nacht auch Leiden sie Qual: und der Sorgen Last ist die Gabe der Götter! So ruft der »heitere« Hesiod aus (Werke und Tage, Vers 175 fg.). Und er malt uns ein vergangenes »golden Geschlecht«, dem wir das Wenige verdanken sollen, was unter uns Entarteten noch gut ist, denn als Geister wandeln diese grossen Männer der Vergangenheit noch in unserer Mitte; vergl. S. 113. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 36

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/40>, abgerufen am 28.03.2024.