legt der Wissenschaft in allen ihren Zweigen Handschellen an, gleich- wie seiner Zeit die Theologie des Aristoteles es gethan hatte.
Für das Verständnis unserer heranwachsenden neuen Welt und unseres ganzen 19. Jahrhunderts war es zunächst unumgänglich not- wendig, deutlich zu zeigen, wie aus einem neuen Geist und einer neuen Methode auch neue Ergebnisse entstehen und wie diese wiederum zu einem durchaus neuen philosophischen Problem führen mussten. Und das hat einige Umständlichkeit erfordert; denn der Menschheits- und Fortschrittswahn macht, dass die Geschichtsschreiber der Philosophie unsere Weltanschauung immer so darstellen, als ob sie nach und nach aus der hellenischen und scholastischen hervorgewachsen wäre, und das ist einfach nicht wahr, sondern ist ein pragmatisches Wahngebilde. Viel- mehr ist unsere Weltanschauung in direktem Gegensatz zur hellenischen und zur christ-hellenischen Philosophie entstanden. Unsere Theologen kündigten der Kirchenphilosophie den Gehorsam; unsere Mystiker schüttelten, so viel sie irgend konnten, die historische Überlieferung ab, um in die Erfahrungen des eigenen Selbst sich zu vertiefen; unsere Humanisten leugneten das Absolute, leugneten den Fortschritt, kehrten sehnsuchtsvoll in die beschimpfte Vergangenheit zurück und lehrten uns das Individuelle in seinen verschiedenen Äusserungen unterscheiden und hochschätzen; unsere naturforschenden Denker endlich richteten ihr Sinnen auf die Ergebnisse einer früher nie geahnten, nie versuchten Wissenschaft; ein Descartes, ein Locke sind von der Sohle bis zum Scheitel neue Erscheinungen, sie knüpfen nicht bei Aristoteles und Plato an, sondern sagen sich energisch von ihnen los, und was ihnen von der Scholastik ihrer Zeit anklebt, ist nicht das Wesentliche an ihnen, sondern das Nebensächliche. Diese Überzeugung hoffe ich dem Leser mitgeteilt zu haben, und ich meine, sie war es wert, dass man ein paar Druckseiten darauf verwendete. Nur auf diese Weise konnte es gelingen, begreiflich zu machen, dass das Dilemma, in welchem sich Descartes und Locke plötzlich verwickelt fanden, nicht eine alte aufgewärmte philosophische Frage war, sondern eine durchaus neue, die sich aus dem redlichen Bestreben ergeben hatte, sich von der Er- fahrung allein, von der Natur allein leiten zu lassen. Das Problem, welches jetzt auftauchte, mag wohl mit anderen Problemen, die andere Denker zu anderen Zeiten beschäftigt hatten, verwandt sein, doch nicht genetisch; und die besondere Art, wie es hier auftrat, ist ganz neu. Hier schafft der Historiker nicht durch Verbindung, sondern durch Trennung Klarheit.
Weltanschauung und Religion.
legt der Wissenschaft in allen ihren Zweigen Handschellen an, gleich- wie seiner Zeit die Theologie des Aristoteles es gethan hatte.
Für das Verständnis unserer heranwachsenden neuen Welt und unseres ganzen 19. Jahrhunderts war es zunächst unumgänglich not- wendig, deutlich zu zeigen, wie aus einem neuen Geist und einer neuen Methode auch neue Ergebnisse entstehen und wie diese wiederum zu einem durchaus neuen philosophischen Problem führen mussten. Und das hat einige Umständlichkeit erfordert; denn der Menschheits- und Fortschrittswahn macht, dass die Geschichtsschreiber der Philosophie unsere Weltanschauung immer so darstellen, als ob sie nach und nach aus der hellenischen und scholastischen hervorgewachsen wäre, und das ist einfach nicht wahr, sondern ist ein pragmatisches Wahngebilde. Viel- mehr ist unsere Weltanschauung in direktem Gegensatz zur hellenischen und zur christ-hellenischen Philosophie entstanden. Unsere Theologen kündigten der Kirchenphilosophie den Gehorsam; unsere Mystiker schüttelten, so viel sie irgend konnten, die historische Überlieferung ab, um in die Erfahrungen des eigenen Selbst sich zu vertiefen; unsere Humanisten leugneten das Absolute, leugneten den Fortschritt, kehrten sehnsuchtsvoll in die beschimpfte Vergangenheit zurück und lehrten uns das Individuelle in seinen verschiedenen Äusserungen unterscheiden und hochschätzen; unsere naturforschenden Denker endlich richteten ihr Sinnen auf die Ergebnisse einer früher nie geahnten, nie versuchten Wissenschaft; ein Descartes, ein Locke sind von der Sohle bis zum Scheitel neue Erscheinungen, sie knüpfen nicht bei Aristoteles und Plato an, sondern sagen sich energisch von ihnen los, und was ihnen von der Scholastik ihrer Zeit anklebt, ist nicht das Wesentliche an ihnen, sondern das Nebensächliche. Diese Überzeugung hoffe ich dem Leser mitgeteilt zu haben, und ich meine, sie war es wert, dass man ein paar Druckseiten darauf verwendete. Nur auf diese Weise konnte es gelingen, begreiflich zu machen, dass das Dilemma, in welchem sich Descartes und Locke plötzlich verwickelt fanden, nicht eine alte aufgewärmte philosophische Frage war, sondern eine durchaus neue, die sich aus dem redlichen Bestreben ergeben hatte, sich von der Er- fahrung allein, von der Natur allein leiten zu lassen. Das Problem, welches jetzt auftauchte, mag wohl mit anderen Problemen, die andere Denker zu anderen Zeiten beschäftigt hatten, verwandt sein, doch nicht genetisch; und die besondere Art, wie es hier auftrat, ist ganz neu. Hier schafft der Historiker nicht durch Verbindung, sondern durch Trennung Klarheit.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0398"n="919"/><fwplace="top"type="header">Weltanschauung und Religion.</fw><lb/>
legt der Wissenschaft in allen ihren Zweigen Handschellen an, gleich-<lb/>
wie seiner Zeit die Theologie des Aristoteles es gethan hatte.</p><lb/><p>Für das Verständnis unserer heranwachsenden neuen Welt und<lb/>
unseres ganzen 19. Jahrhunderts war es zunächst unumgänglich not-<lb/>
wendig, deutlich zu zeigen, wie aus einem neuen Geist und einer neuen<lb/>
Methode auch neue Ergebnisse entstehen und wie diese wiederum zu<lb/>
einem <hirendition="#g">durchaus neuen</hi> philosophischen Problem führen mussten.<lb/>
Und das hat einige Umständlichkeit erfordert; denn der Menschheits-<lb/>
und Fortschrittswahn macht, dass die Geschichtsschreiber der Philosophie<lb/>
unsere Weltanschauung immer so darstellen, als ob sie nach und nach<lb/>
aus der hellenischen und scholastischen hervorgewachsen wäre, und das<lb/>
ist einfach nicht wahr, sondern ist ein pragmatisches Wahngebilde. Viel-<lb/>
mehr ist unsere Weltanschauung in direktem Gegensatz zur hellenischen<lb/>
und zur christ-hellenischen Philosophie entstanden. Unsere Theologen<lb/>
kündigten der Kirchenphilosophie den Gehorsam; unsere Mystiker<lb/>
schüttelten, so viel sie irgend konnten, die historische Überlieferung ab,<lb/>
um in die Erfahrungen des eigenen Selbst sich zu vertiefen; unsere<lb/>
Humanisten leugneten das Absolute, leugneten den Fortschritt, kehrten<lb/>
sehnsuchtsvoll in die beschimpfte Vergangenheit zurück und lehrten uns<lb/>
das Individuelle in seinen verschiedenen Äusserungen unterscheiden und<lb/>
hochschätzen; unsere naturforschenden Denker endlich richteten ihr<lb/>
Sinnen auf die Ergebnisse einer früher nie geahnten, nie versuchten<lb/>
Wissenschaft; ein Descartes, ein Locke sind von der Sohle bis zum<lb/>
Scheitel neue Erscheinungen, sie knüpfen nicht bei Aristoteles und<lb/>
Plato an, sondern sagen sich energisch von ihnen los, und was ihnen<lb/>
von der Scholastik ihrer Zeit anklebt, ist nicht das Wesentliche an<lb/>
ihnen, sondern das Nebensächliche. Diese Überzeugung hoffe ich dem<lb/>
Leser mitgeteilt zu haben, und ich meine, sie war es wert, dass man<lb/>
ein paar Druckseiten darauf verwendete. Nur auf diese Weise konnte<lb/>
es gelingen, begreiflich zu machen, dass das Dilemma, in welchem<lb/>
sich Descartes und Locke plötzlich verwickelt fanden, nicht eine alte<lb/>
aufgewärmte philosophische Frage war, sondern eine durchaus neue,<lb/>
die sich aus dem redlichen Bestreben ergeben hatte, sich von der Er-<lb/>
fahrung allein, von der Natur allein leiten zu lassen. Das Problem,<lb/>
welches jetzt auftauchte, mag wohl mit anderen Problemen, die andere<lb/>
Denker zu anderen Zeiten beschäftigt hatten, verwandt sein, doch nicht<lb/>
genetisch; und die besondere Art, wie es hier auftrat, ist ganz neu.<lb/>
Hier schafft der Historiker nicht durch Verbindung, sondern durch<lb/>
Trennung Klarheit.</p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[919/0398]
Weltanschauung und Religion.
legt der Wissenschaft in allen ihren Zweigen Handschellen an, gleich-
wie seiner Zeit die Theologie des Aristoteles es gethan hatte.
Für das Verständnis unserer heranwachsenden neuen Welt und
unseres ganzen 19. Jahrhunderts war es zunächst unumgänglich not-
wendig, deutlich zu zeigen, wie aus einem neuen Geist und einer neuen
Methode auch neue Ergebnisse entstehen und wie diese wiederum zu
einem durchaus neuen philosophischen Problem führen mussten.
Und das hat einige Umständlichkeit erfordert; denn der Menschheits-
und Fortschrittswahn macht, dass die Geschichtsschreiber der Philosophie
unsere Weltanschauung immer so darstellen, als ob sie nach und nach
aus der hellenischen und scholastischen hervorgewachsen wäre, und das
ist einfach nicht wahr, sondern ist ein pragmatisches Wahngebilde. Viel-
mehr ist unsere Weltanschauung in direktem Gegensatz zur hellenischen
und zur christ-hellenischen Philosophie entstanden. Unsere Theologen
kündigten der Kirchenphilosophie den Gehorsam; unsere Mystiker
schüttelten, so viel sie irgend konnten, die historische Überlieferung ab,
um in die Erfahrungen des eigenen Selbst sich zu vertiefen; unsere
Humanisten leugneten das Absolute, leugneten den Fortschritt, kehrten
sehnsuchtsvoll in die beschimpfte Vergangenheit zurück und lehrten uns
das Individuelle in seinen verschiedenen Äusserungen unterscheiden und
hochschätzen; unsere naturforschenden Denker endlich richteten ihr
Sinnen auf die Ergebnisse einer früher nie geahnten, nie versuchten
Wissenschaft; ein Descartes, ein Locke sind von der Sohle bis zum
Scheitel neue Erscheinungen, sie knüpfen nicht bei Aristoteles und
Plato an, sondern sagen sich energisch von ihnen los, und was ihnen
von der Scholastik ihrer Zeit anklebt, ist nicht das Wesentliche an
ihnen, sondern das Nebensächliche. Diese Überzeugung hoffe ich dem
Leser mitgeteilt zu haben, und ich meine, sie war es wert, dass man
ein paar Druckseiten darauf verwendete. Nur auf diese Weise konnte
es gelingen, begreiflich zu machen, dass das Dilemma, in welchem
sich Descartes und Locke plötzlich verwickelt fanden, nicht eine alte
aufgewärmte philosophische Frage war, sondern eine durchaus neue,
die sich aus dem redlichen Bestreben ergeben hatte, sich von der Er-
fahrung allein, von der Natur allein leiten zu lassen. Das Problem,
welches jetzt auftauchte, mag wohl mit anderen Problemen, die andere
Denker zu anderen Zeiten beschäftigt hatten, verwandt sein, doch nicht
genetisch; und die besondere Art, wie es hier auftrat, ist ganz neu.
Hier schafft der Historiker nicht durch Verbindung, sondern durch
Trennung Klarheit.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 919. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/398>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.