Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. Menschenrassen aufgestellt, und mag auch heute eine Reaktion ein-getreten sein, weil die Sprachforscher geneigt waren, zu viel Gewicht auf die blosse Sprache zu legen,1) so bleiben nichtsdestoweniger die humanistischen Unterscheidungen für alle Zeiten bestehen; denn sie sind Thatsachen der Natur, und zwar solche, die weit sicherer aus dem Studium der geistigen Leistungen der Völker zu erschliessen sind, als aus der Katalogisierung ihrer Schädelweiten. In analoger Weise ergab sich aus dem Studium der toten Sprachen die genauere Kenntnis der lebenden. Wir sahen in Indien die wissenschaftliche Philologie geboren werden aus dem heissen Sehnen, ein halbvergessenes Idiom richtig zu verstehen (S. 408); ähnlich erging es bei uns. Auf die genaue Kenntnis fremder, doch verwandter Sprachen erfolgte die zunehmend genaue Kenntnis und Ausbildung der unseren. Dass gerade dieser Vorgang eine in sprachlicher Beziehung trübe Übergangszeit verursachte, kann nicht geleugnet werden; der urwüchsige Volksinstinkt wurde geschwächt und schale Gelehrsamkeit verübte -- wie gewöhnlich -- wahre Buben- stücke an dem heiligsten Erbe; trotzdem gingen unsere Sprachen ge- klärt aus dem klassischen Glühofen hervor, weniger gewaltig vielleicht als ehedem, doch biegsamer, lenksamer und dadurch als vollkommenere Werkzeuge für das Denken einer weiter entwickelten Kultur. Die römische Kirche war die Feindin unserer Sprachen, nicht aber (wie so häufig der Unverstand behauptet) die Humanisten; im Gegenteil, diese waren es -- im Bunde mit den Mystikern -- welche die einheimischen Sprachen in die Litteratur und in die Wissenschaft einführten: von Petrarca, dem Vollender der italienischen poetischen Sprache und Boccaccio (einem der verdientesten unter den frühen Humanisten), dem Begründer der italienischen Prosa, bis zu Boileau und Herder, sehen wir das überall, und in den Universitäten sind es neben Mystikern, wie Paracelsus, hervorragende Humanisten, wie Christian Thomasius, welche gewaltsam den Gebrauch der Muttersprachen erzwingen und sie somit auch innerhalb des Kreises der speziellen Gelehrsamkeit aus der Verachtung erretten, in welche sie durch den langanhaltenden Einfluss Rom's verfallen waren. Was hierdurch für die Ausbildung unserer Weltanschauung gewonnen ward, ist einfach unermesslich. Die latei- nische Sprache ist wie ein hoher Damm, welcher das geistige Gebiet trockenlegt und das Element der Metaphysik ausschliesst; ihr ist die Ahnung des Geheimnisvollen, das Wandeln auf der Grenze der beiden 1) Vergl. S. 268.
Die Entstehung einer neuen Welt. Menschenrassen aufgestellt, und mag auch heute eine Reaktion ein-getreten sein, weil die Sprachforscher geneigt waren, zu viel Gewicht auf die blosse Sprache zu legen,1) so bleiben nichtsdestoweniger die humanistischen Unterscheidungen für alle Zeiten bestehen; denn sie sind Thatsachen der Natur, und zwar solche, die weit sicherer aus dem Studium der geistigen Leistungen der Völker zu erschliessen sind, als aus der Katalogisierung ihrer Schädelweiten. In analoger Weise ergab sich aus dem Studium der toten Sprachen die genauere Kenntnis der lebenden. Wir sahen in Indien die wissenschaftliche Philologie geboren werden aus dem heissen Sehnen, ein halbvergessenes Idiom richtig zu verstehen (S. 408); ähnlich erging es bei uns. Auf die genaue Kenntnis fremder, doch verwandter Sprachen erfolgte die zunehmend genaue Kenntnis und Ausbildung der unseren. Dass gerade dieser Vorgang eine in sprachlicher Beziehung trübe Übergangszeit verursachte, kann nicht geleugnet werden; der urwüchsige Volksinstinkt wurde geschwächt und schale Gelehrsamkeit verübte — wie gewöhnlich — wahre Buben- stücke an dem heiligsten Erbe; trotzdem gingen unsere Sprachen ge- klärt aus dem klassischen Glühofen hervor, weniger gewaltig vielleicht als ehedem, doch biegsamer, lenksamer und dadurch als vollkommenere Werkzeuge für das Denken einer weiter entwickelten Kultur. Die römische Kirche war die Feindin unserer Sprachen, nicht aber (wie so häufig der Unverstand behauptet) die Humanisten; im Gegenteil, diese waren es — im Bunde mit den Mystikern — welche die einheimischen Sprachen in die Litteratur und in die Wissenschaft einführten: von Petrarca, dem Vollender der italienischen poetischen Sprache und Boccaccio (einem der verdientesten unter den frühen Humanisten), dem Begründer der italienischen Prosa, bis zu Boileau und Herder, sehen wir das überall, und in den Universitäten sind es neben Mystikern, wie Paracelsus, hervorragende Humanisten, wie Christian Thomasius, welche gewaltsam den Gebrauch der Muttersprachen erzwingen und sie somit auch innerhalb des Kreises der speziellen Gelehrsamkeit aus der Verachtung erretten, in welche sie durch den langanhaltenden Einfluss Rom’s verfallen waren. Was hierdurch für die Ausbildung unserer Weltanschauung gewonnen ward, ist einfach unermesslich. Die latei- nische Sprache ist wie ein hoher Damm, welcher das geistige Gebiet trockenlegt und das Element der Metaphysik ausschliesst; ihr ist die Ahnung des Geheimnisvollen, das Wandeln auf der Grenze der beiden 1) Vergl. S. 268.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
Menschenrassen aufgestellt, und mag auch heute eine Reaktion ein-
getreten sein, weil die Sprachforscher geneigt waren, zu viel Gewicht
auf die blosse Sprache zu legen, 1) so bleiben nichtsdestoweniger die
humanistischen Unterscheidungen für alle Zeiten bestehen; denn sie sind
Thatsachen der Natur, und zwar solche, die weit sicherer aus dem
Studium der geistigen Leistungen der Völker zu erschliessen sind, als
aus der Katalogisierung ihrer Schädelweiten. In analoger Weise ergab
sich aus dem Studium der toten Sprachen die genauere Kenntnis der
lebenden. Wir sahen in Indien die wissenschaftliche Philologie geboren
werden aus dem heissen Sehnen, ein halbvergessenes Idiom richtig zu
verstehen (S. 408); ähnlich erging es bei uns. Auf die genaue Kenntnis
fremder, doch verwandter Sprachen erfolgte die zunehmend genaue
Kenntnis und Ausbildung der unseren. Dass gerade dieser Vorgang
eine in sprachlicher Beziehung trübe Übergangszeit verursachte, kann
nicht geleugnet werden; der urwüchsige Volksinstinkt wurde geschwächt
und schale Gelehrsamkeit verübte — wie gewöhnlich — wahre Buben-
stücke an dem heiligsten Erbe; trotzdem gingen unsere Sprachen ge-
klärt aus dem klassischen Glühofen hervor, weniger gewaltig vielleicht
als ehedem, doch biegsamer, lenksamer und dadurch als vollkommenere
Werkzeuge für das Denken einer weiter entwickelten Kultur. Die
römische Kirche war die Feindin unserer Sprachen, nicht aber (wie so
häufig der Unverstand behauptet) die Humanisten; im Gegenteil, diese
waren es — im Bunde mit den Mystikern — welche die einheimischen
Sprachen in die Litteratur und in die Wissenschaft einführten: von
Petrarca, dem Vollender der italienischen poetischen Sprache und
Boccaccio (einem der verdientesten unter den frühen Humanisten),
dem Begründer der italienischen Prosa, bis zu Boileau und Herder,
sehen wir das überall, und in den Universitäten sind es neben Mystikern,
wie Paracelsus, hervorragende Humanisten, wie Christian Thomasius,
welche gewaltsam den Gebrauch der Muttersprachen erzwingen und sie
somit auch innerhalb des Kreises der speziellen Gelehrsamkeit aus der
Verachtung erretten, in welche sie durch den langanhaltenden Einfluss
Rom’s verfallen waren. Was hierdurch für die Ausbildung unserer
Weltanschauung gewonnen ward, ist einfach unermesslich. Die latei-
nische Sprache ist wie ein hoher Damm, welcher das geistige Gebiet
trockenlegt und das Element der Metaphysik ausschliesst; ihr ist die
Ahnung des Geheimnisvollen, das Wandeln auf der Grenze der beiden
1) Vergl. S. 268.
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