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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
diesem letzten, innigsten Lobgesang des heiligen Mannes wird nicht
ein einziger Glaubenssatz der Kirche berührt. Wenige Dinge sind lehr-
reicher als ein Vergleich zwischen diesem Herzenserguss des Mannes,
der ganz Religion geworden war, und nun seine letzten Kräfte zusammen-
nimmt, um der gesamten Natur ein überschwängliches, aus allem
Kirchentum befreites tat-tvam-asi zuzujubeln, und dem orthodoxen,
seelenlosen, kalten Glaubensbekenntnis des hochgelehrten, in Staatskunst
und Theologie erfahrenen Dante im 24. Gesang seines Paradiso.1)
Dante beschloss damit eine alte, tote Zeit, Franz eröffnete eine neue.
Jakob Böhme stellt die Natur höher als die heilige Schrift: "Du wirst
kein Buch finden, da du die göttliche Weisheit könntest mehr inne
finden zu forschen, als wenn du auf eine grünende und blühende Wiese
gehest: da wirst du die wunderliche Kraft Gottes sehen, riechen und
schmecken, wiewohl es nur ein Gleichnis ist ...: aber dem Suchenden
ist's ein lieber Lehrmeister, er findet gar viel allda".2) Diese Gesinnung
ist für unsere Naturforschung von bahnbrechendem Einfluss gewesen.
Ich brauche nur auf Paracelsus zu verweisen, dessen grosse Bedeutung
für fast das gesamte Gebiet der Naturwissenschaften täglich mehr an-
erkannt wird. Das Grosse und Bleibende an dem Wirken dieses merk-
würdigen Mannes ist nicht die Entdeckung von Thatsachen -- im
Gegenteil, durch seine unselige Verbindung mit Magie und Astrologie
hat er viel Absurdes in Umlauf gesetzt -- sondern der Geist, den er
der Naturforschung einflösste. Virchow, ein für Mystik gewiss nicht
voreingenommener Zeuge, der den traurigen Mut hat, Paracelsus einen
"Charlatan" zu nennen, erklärt dennoch ausdrücklich, er sei es, der
der alten Medizin den Todesstoss versetzt und der Wissenschaft "die
Idee des Lebens" geschenkt habe.3) Paracelsus ist der Schöpfer der
eigentlichen Physiologie; weder mehr noch weniger; und das ist
ein so hoher Ruhmestitel, dass sogar ein nüchtern-wissenschaftlicher
Geschichtsschreiber der Medizin von "der erhabenen Lichtgestalt dieses
Heros" spricht.4) Paracelsus war ein fanatischer Mystiker; er meinte:
"das innere Licht steht hoch über der viehischen Vernunft"; daher
grosse Einseitigkeit. So wollte er z. B. von Anatomie wenig wissen;

1) Vergl. auch S. 622, Anm. 2.
2) Die drei Principien göttlichen Wesens, Kap. 8, § 12.
3) Vortrag (Croonian Lecture) gehalten in London am 16. März 1893.
4) Hirschel: Geschichte der Medicin, 2. Aufl., S. 208. Hier findet man eine
ausführliche kritische Würdigung des Paracelsus, aus welcher ein Teil der folgenden
Angaben entnommen ist.

Die Entstehung einer neuen Welt.
diesem letzten, innigsten Lobgesang des heiligen Mannes wird nicht
ein einziger Glaubenssatz der Kirche berührt. Wenige Dinge sind lehr-
reicher als ein Vergleich zwischen diesem Herzenserguss des Mannes,
der ganz Religion geworden war, und nun seine letzten Kräfte zusammen-
nimmt, um der gesamten Natur ein überschwängliches, aus allem
Kirchentum befreites tat-tvam-asi zuzujubeln, und dem orthodoxen,
seelenlosen, kalten Glaubensbekenntnis des hochgelehrten, in Staatskunst
und Theologie erfahrenen Dante im 24. Gesang seines Paradiso.1)
Dante beschloss damit eine alte, tote Zeit, Franz eröffnete eine neue.
Jakob Böhme stellt die Natur höher als die heilige Schrift: »Du wirst
kein Buch finden, da du die göttliche Weisheit könntest mehr inne
finden zu forschen, als wenn du auf eine grünende und blühende Wiese
gehest: da wirst du die wunderliche Kraft Gottes sehen, riechen und
schmecken, wiewohl es nur ein Gleichnis ist …: aber dem Suchenden
ist’s ein lieber Lehrmeister, er findet gar viel allda«.2) Diese Gesinnung
ist für unsere Naturforschung von bahnbrechendem Einfluss gewesen.
Ich brauche nur auf Paracelsus zu verweisen, dessen grosse Bedeutung
für fast das gesamte Gebiet der Naturwissenschaften täglich mehr an-
erkannt wird. Das Grosse und Bleibende an dem Wirken dieses merk-
würdigen Mannes ist nicht die Entdeckung von Thatsachen — im
Gegenteil, durch seine unselige Verbindung mit Magie und Astrologie
hat er viel Absurdes in Umlauf gesetzt — sondern der Geist, den er
der Naturforschung einflösste. Virchow, ein für Mystik gewiss nicht
voreingenommener Zeuge, der den traurigen Mut hat, Paracelsus einen
»Charlatan« zu nennen, erklärt dennoch ausdrücklich, er sei es, der
der alten Medizin den Todesstoss versetzt und der Wissenschaft »die
Idee des Lebens« geschenkt habe.3) Paracelsus ist der Schöpfer der
eigentlichen Physiologie; weder mehr noch weniger; und das ist
ein so hoher Ruhmestitel, dass sogar ein nüchtern-wissenschaftlicher
Geschichtsschreiber der Medizin von »der erhabenen Lichtgestalt dieses
Heros« spricht.4) Paracelsus war ein fanatischer Mystiker; er meinte:
»das innere Licht steht hoch über der viehischen Vernunft«; daher
grosse Einseitigkeit. So wollte er z. B. von Anatomie wenig wissen;

1) Vergl. auch S. 622, Anm. 2.
2) Die drei Principien göttlichen Wesens, Kap. 8, § 12.
3) Vortrag (Croonian Lecture) gehalten in London am 16. März 1893.
4) Hirschel: Geschichte der Medicin, 2. Aufl., S. 208. Hier findet man eine
ausführliche kritische Würdigung des Paracelsus, aus welcher ein Teil der folgenden
Angaben entnommen ist.
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[888/0367] Die Entstehung einer neuen Welt. diesem letzten, innigsten Lobgesang des heiligen Mannes wird nicht ein einziger Glaubenssatz der Kirche berührt. Wenige Dinge sind lehr- reicher als ein Vergleich zwischen diesem Herzenserguss des Mannes, der ganz Religion geworden war, und nun seine letzten Kräfte zusammen- nimmt, um der gesamten Natur ein überschwängliches, aus allem Kirchentum befreites tat-tvam-asi zuzujubeln, und dem orthodoxen, seelenlosen, kalten Glaubensbekenntnis des hochgelehrten, in Staatskunst und Theologie erfahrenen Dante im 24. Gesang seines Paradiso. 1) Dante beschloss damit eine alte, tote Zeit, Franz eröffnete eine neue. Jakob Böhme stellt die Natur höher als die heilige Schrift: »Du wirst kein Buch finden, da du die göttliche Weisheit könntest mehr inne finden zu forschen, als wenn du auf eine grünende und blühende Wiese gehest: da wirst du die wunderliche Kraft Gottes sehen, riechen und schmecken, wiewohl es nur ein Gleichnis ist …: aber dem Suchenden ist’s ein lieber Lehrmeister, er findet gar viel allda«. 2) Diese Gesinnung ist für unsere Naturforschung von bahnbrechendem Einfluss gewesen. Ich brauche nur auf Paracelsus zu verweisen, dessen grosse Bedeutung für fast das gesamte Gebiet der Naturwissenschaften täglich mehr an- erkannt wird. Das Grosse und Bleibende an dem Wirken dieses merk- würdigen Mannes ist nicht die Entdeckung von Thatsachen — im Gegenteil, durch seine unselige Verbindung mit Magie und Astrologie hat er viel Absurdes in Umlauf gesetzt — sondern der Geist, den er der Naturforschung einflösste. Virchow, ein für Mystik gewiss nicht voreingenommener Zeuge, der den traurigen Mut hat, Paracelsus einen »Charlatan« zu nennen, erklärt dennoch ausdrücklich, er sei es, der der alten Medizin den Todesstoss versetzt und der Wissenschaft »die Idee des Lebens« geschenkt habe. 3) Paracelsus ist der Schöpfer der eigentlichen Physiologie; weder mehr noch weniger; und das ist ein so hoher Ruhmestitel, dass sogar ein nüchtern-wissenschaftlicher Geschichtsschreiber der Medizin von »der erhabenen Lichtgestalt dieses Heros« spricht. 4) Paracelsus war ein fanatischer Mystiker; er meinte: »das innere Licht steht hoch über der viehischen Vernunft«; daher grosse Einseitigkeit. So wollte er z. B. von Anatomie wenig wissen; 1) Vergl. auch S. 622, Anm. 2. 2) Die drei Principien göttlichen Wesens, Kap. 8, § 12. 3) Vortrag (Croonian Lecture) gehalten in London am 16. März 1893. 4) Hirschel: Geschichte der Medicin, 2. Aufl., S. 208. Hier findet man eine ausführliche kritische Würdigung des Paracelsus, aus welcher ein Teil der folgenden Angaben entnommen ist.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 888. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/367>, abgerufen am 25.11.2024.