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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
der sanfte Molinos, von den Jesuiten wie ein toller Hund verfolgt,
unterwarf sich wortlos den von der Inquisition über ihn verhängten
Bussübungen, und zwar so harten, dass er daran starb. Beide wirken
fort und fort, um innerhalb der Kirchen die Geister der religiös Bean-
lagten auf ein höheres Niveau zu heben; damit wird der Abfall sicher
vorbereitet.

Habe ich nun angedeutet, wie die Mystik an hundert Orten auf
die uns aufgezwungenen ungermanischen Vorstellungen zerstörend
wirkte, so erübrigt es noch anzudeuten, wie unendlich reich und an-
regend sie sich zu jeder Zeit für den Aufbau unserer neuen Welt und
unserer neuen Weltanschauung erwiesen hat.

Hier könnte man geneigt sein, mit Kant -- der, gleich Luther,
obwohl er mit den Mystikern intim verwachsen war, doch nicht viel
von ihnen wissen mochte -- zwischen "Träumern der Vernunft" und
"Träumern der Empfindung" zu unterscheiden.1) Denn in der That,
es kommen zwei Hauptrichtungen vor, die eine mit dem Augenmerk
mehr auf das Sittlich-religiöse, die andere mehr auf das Metaphysische.
Doch wäre die Unterscheidung schwer durchzuführen, denn Meta-
physik und Religion lassen sich im Geiste des Germanen nie völlig
trennen. Wie wichtig z. B. ist die Verlegung von Gut und Böse ganz
und gar in den Willen, was wir schon (für Scharfblickende) in Duns
Scotus angedeutet, in Eckhart und Jakob Böhme klar ausgesprochen
fanden. Hierzu muss der Wille frei sein. Nun ist aber jeder Mystik
das Gefühl der Notwendigkeit eigen und zwar weil die Mystik eng
mit der Natur verwachsen ist, wo überall Notwendigkeit am Werke
erblickt wird.2) Darum nennt auch Böhme die Natur ohne Weiteres
"ewig" und leugnet ihre Erschaffung aus nichts: was durchaus philo-
sophisch gedacht ist. Wie nun die Freiheit retten? Man sieht, hier
umklammern sich ein sittliches und ein metaphysisches Problem, wie
zwei Ertrinkende; und in der That, es stand schlimm darum, bis der
grosse Kant, in dessen Händen die verschiedenen Fäden, die wir hier
verfolgen -- Theologie, Mystik, Humanismus und Naturforschung --
zusammenliefen, zur Hilfe kam. Einzig durch die Erkenntnis der trans-
scendentalen Idealität von Zeit und Raum kann die Freiheit gerettet
werden, ohne dass der Vernunft Zwang angethan werde; d. h. also
durch die Einsicht, dass unser eigenes Wesen durch die Welt der Er-

1) Träume eines Geistersehers u. s. w., Teil 1, Hauptstück 3.
2) Man vergl. die Ausführungen auf S. 242 fg.

Weltanschauung und Religion.
der sanfte Molinos, von den Jesuiten wie ein toller Hund verfolgt,
unterwarf sich wortlos den von der Inquisition über ihn verhängten
Bussübungen, und zwar so harten, dass er daran starb. Beide wirken
fort und fort, um innerhalb der Kirchen die Geister der religiös Bean-
lagten auf ein höheres Niveau zu heben; damit wird der Abfall sicher
vorbereitet.

Habe ich nun angedeutet, wie die Mystik an hundert Orten auf
die uns aufgezwungenen ungermanischen Vorstellungen zerstörend
wirkte, so erübrigt es noch anzudeuten, wie unendlich reich und an-
regend sie sich zu jeder Zeit für den Aufbau unserer neuen Welt und
unserer neuen Weltanschauung erwiesen hat.

Hier könnte man geneigt sein, mit Kant — der, gleich Luther,
obwohl er mit den Mystikern intim verwachsen war, doch nicht viel
von ihnen wissen mochte — zwischen »Träumern der Vernunft« und
»Träumern der Empfindung« zu unterscheiden.1) Denn in der That,
es kommen zwei Hauptrichtungen vor, die eine mit dem Augenmerk
mehr auf das Sittlich-religiöse, die andere mehr auf das Metaphysische.
Doch wäre die Unterscheidung schwer durchzuführen, denn Meta-
physik und Religion lassen sich im Geiste des Germanen nie völlig
trennen. Wie wichtig z. B. ist die Verlegung von Gut und Böse ganz
und gar in den Willen, was wir schon (für Scharfblickende) in Duns
Scotus angedeutet, in Eckhart und Jakob Böhme klar ausgesprochen
fanden. Hierzu muss der Wille frei sein. Nun ist aber jeder Mystik
das Gefühl der Notwendigkeit eigen und zwar weil die Mystik eng
mit der Natur verwachsen ist, wo überall Notwendigkeit am Werke
erblickt wird.2) Darum nennt auch Böhme die Natur ohne Weiteres
»ewig« und leugnet ihre Erschaffung aus nichts: was durchaus philo-
sophisch gedacht ist. Wie nun die Freiheit retten? Man sieht, hier
umklammern sich ein sittliches und ein metaphysisches Problem, wie
zwei Ertrinkende; und in der That, es stand schlimm darum, bis der
grosse Kant, in dessen Händen die verschiedenen Fäden, die wir hier
verfolgen — Theologie, Mystik, Humanismus und Naturforschung —
zusammenliefen, zur Hilfe kam. Einzig durch die Erkenntnis der trans-
scendentalen Idealität von Zeit und Raum kann die Freiheit gerettet
werden, ohne dass der Vernunft Zwang angethan werde; d. h. also
durch die Einsicht, dass unser eigenes Wesen durch die Welt der Er-

1) Träume eines Geistersehers u. s. w., Teil 1, Hauptstück 3.
2) Man vergl. die Ausführungen auf S. 242 fg.
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[883/0362] Weltanschauung und Religion. der sanfte Molinos, von den Jesuiten wie ein toller Hund verfolgt, unterwarf sich wortlos den von der Inquisition über ihn verhängten Bussübungen, und zwar so harten, dass er daran starb. Beide wirken fort und fort, um innerhalb der Kirchen die Geister der religiös Bean- lagten auf ein höheres Niveau zu heben; damit wird der Abfall sicher vorbereitet. Habe ich nun angedeutet, wie die Mystik an hundert Orten auf die uns aufgezwungenen ungermanischen Vorstellungen zerstörend wirkte, so erübrigt es noch anzudeuten, wie unendlich reich und an- regend sie sich zu jeder Zeit für den Aufbau unserer neuen Welt und unserer neuen Weltanschauung erwiesen hat. Hier könnte man geneigt sein, mit Kant — der, gleich Luther, obwohl er mit den Mystikern intim verwachsen war, doch nicht viel von ihnen wissen mochte — zwischen »Träumern der Vernunft« und »Träumern der Empfindung« zu unterscheiden. 1) Denn in der That, es kommen zwei Hauptrichtungen vor, die eine mit dem Augenmerk mehr auf das Sittlich-religiöse, die andere mehr auf das Metaphysische. Doch wäre die Unterscheidung schwer durchzuführen, denn Meta- physik und Religion lassen sich im Geiste des Germanen nie völlig trennen. Wie wichtig z. B. ist die Verlegung von Gut und Böse ganz und gar in den Willen, was wir schon (für Scharfblickende) in Duns Scotus angedeutet, in Eckhart und Jakob Böhme klar ausgesprochen fanden. Hierzu muss der Wille frei sein. Nun ist aber jeder Mystik das Gefühl der Notwendigkeit eigen und zwar weil die Mystik eng mit der Natur verwachsen ist, wo überall Notwendigkeit am Werke erblickt wird. 2) Darum nennt auch Böhme die Natur ohne Weiteres »ewig« und leugnet ihre Erschaffung aus nichts: was durchaus philo- sophisch gedacht ist. Wie nun die Freiheit retten? Man sieht, hier umklammern sich ein sittliches und ein metaphysisches Problem, wie zwei Ertrinkende; und in der That, es stand schlimm darum, bis der grosse Kant, in dessen Händen die verschiedenen Fäden, die wir hier verfolgen — Theologie, Mystik, Humanismus und Naturforschung — zusammenliefen, zur Hilfe kam. Einzig durch die Erkenntnis der trans- scendentalen Idealität von Zeit und Raum kann die Freiheit gerettet werden, ohne dass der Vernunft Zwang angethan werde; d. h. also durch die Einsicht, dass unser eigenes Wesen durch die Welt der Er- 1) Träume eines Geistersehers u. s. w., Teil 1, Hauptstück 3. 2) Man vergl. die Ausführungen auf S. 242 fg.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 883. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/362>, abgerufen am 22.11.2024.