Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. wäre ungefähr ebenso, als wenn ein Schiffskapitän, ehe er ins Meer sticht,ein paar Eimer Wasser aus dem den Ozean speisenden Fluss holen und vom Bugspriet aus hineinwerfen liesse, aus Besorgnis, er hätte sonst nicht den nötigen Tiefgang. Doch noch ehe Thomas von Aquin an die Errichtung seines babylonischen Turmes gegangen war, hatten viele gemütstiefe Geister empfunden, dass diese von der römischen Kirche in die Praxis, von Anselm in die Theorie eingeführte Richtung zum Tode jeglicher wahrhaften Religion führe; der grösste von diesen war Franz von Assisi gewesen. Gewiss gehört dieser wunderbare Mann zu der Gruppe der Mystiker, doch muss er auch hier genannt werden, denn die Ritter der echten christlichen Theologie erbten von ihm den Lebensimpuls. Auch das scheint paradox, denn kein Heiliger war weniger Theolog als Franz, doch ist es eine geschichtliche Thatsache, und das Paradoxe verschwindet, sobald man einsieht, dass hier der Hinweis auf das Evangelium und auf Jesus Christus die Verbindung bildet. Dieser Laie, der gewaltsam in die Kirche eindringt, das Sacer- dotium bei Seite schiebt und allem Volke das Wort Christi verkündet, verkörpert eine heftige Reaktion der nach Religion sich sehnenden Menschen gegen den kalten, unbegreiflichen, auf dialektischen Stelzen einherschreitenden Dogmenglauben. Franz, der von Jugend auf unter waldensischem Einfluss gestanden hatte, kannte ohne Zweifel das Evan- gelium gut;1) dass er nicht als Ketzer verbrannt wurde, müsste als Wunder gelten, wenn es nicht offenbar ein Zufall wäre; seine Religion lässt sich in den Worten Luther's zusammenfassen: "Das Gesetz Christi ist nicht Lehre, sondern Leben, nicht Wort, sondern das Wesen, nicht Zeichen, sondern die Fülle selbst."2) Das von Franz der Vergessenheit entrissene Evangelium ist nun der Fels, auf den die nordischen Theo- logen sich zurückziehen, als ihnen sowohl die Unhaltbarkeit wie die Gefährlichkeit des theologischen Rationalismus offenbar geworden ist. Und zwar thun sie es mit der Leidenschaft der kampflustigen Über- zeugung und unter dem Antrieb des soeben erlebten Beispiels. Im direkten Gegensatz zu Thomas lehrt Duns, die höchste Seligkeit des Himmels werde nicht das Erkennen, sondern das Lieben sein. Wie eine solche Richtung mit der Zeit wirken musste, ist klar; wir sahen ja vorhin Luther mit grosser Anerkennung von Scotus und Occam sprechen, während er Thomas einen Schwätzer nannte. Die Zugrunde- 1) Siehe S. 613 und vergleiche den Schluss der Anmerkung 1 auf S. 643. 2) Von dem Missbrauch der Messe, Teil 3.
Die Entstehung einer neuen Welt. wäre ungefähr ebenso, als wenn ein Schiffskapitän, ehe er ins Meer sticht,ein paar Eimer Wasser aus dem den Ozean speisenden Fluss holen und vom Bugspriet aus hineinwerfen liesse, aus Besorgnis, er hätte sonst nicht den nötigen Tiefgang. Doch noch ehe Thomas von Aquin an die Errichtung seines babylonischen Turmes gegangen war, hatten viele gemütstiefe Geister empfunden, dass diese von der römischen Kirche in die Praxis, von Anselm in die Theorie eingeführte Richtung zum Tode jeglicher wahrhaften Religion führe; der grösste von diesen war Franz von Assisi gewesen. Gewiss gehört dieser wunderbare Mann zu der Gruppe der Mystiker, doch muss er auch hier genannt werden, denn die Ritter der echten christlichen Theologie erbten von ihm den Lebensimpuls. Auch das scheint paradox, denn kein Heiliger war weniger Theolog als Franz, doch ist es eine geschichtliche Thatsache, und das Paradoxe verschwindet, sobald man einsieht, dass hier der Hinweis auf das Evangelium und auf Jesus Christus die Verbindung bildet. Dieser Laie, der gewaltsam in die Kirche eindringt, das Sacer- dotium bei Seite schiebt und allem Volke das Wort Christi verkündet, verkörpert eine heftige Reaktion der nach Religion sich sehnenden Menschen gegen den kalten, unbegreiflichen, auf dialektischen Stelzen einherschreitenden Dogmenglauben. Franz, der von Jugend auf unter waldensischem Einfluss gestanden hatte, kannte ohne Zweifel das Evan- gelium gut;1) dass er nicht als Ketzer verbrannt wurde, müsste als Wunder gelten, wenn es nicht offenbar ein Zufall wäre; seine Religion lässt sich in den Worten Luther’s zusammenfassen: »Das Gesetz Christi ist nicht Lehre, sondern Leben, nicht Wort, sondern das Wesen, nicht Zeichen, sondern die Fülle selbst.«2) Das von Franz der Vergessenheit entrissene Evangelium ist nun der Fels, auf den die nordischen Theo- logen sich zurückziehen, als ihnen sowohl die Unhaltbarkeit wie die Gefährlichkeit des theologischen Rationalismus offenbar geworden ist. Und zwar thun sie es mit der Leidenschaft der kampflustigen Über- zeugung und unter dem Antrieb des soeben erlebten Beispiels. Im direkten Gegensatz zu Thomas lehrt Duns, die höchste Seligkeit des Himmels werde nicht das Erkennen, sondern das Lieben sein. Wie eine solche Richtung mit der Zeit wirken musste, ist klar; wir sahen ja vorhin Luther mit grosser Anerkennung von Scotus und Occam sprechen, während er Thomas einen Schwätzer nannte. Die Zugrunde- 1) Siehe S. 613 und vergleiche den Schluss der Anmerkung 1 auf S. 643. 2) Von dem Missbrauch der Messe, Teil 3.
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vom Bugspriet aus hineinwerfen liesse, aus Besorgnis, er hätte sonst
nicht den nötigen Tiefgang. Doch noch ehe Thomas von Aquin an die
Errichtung seines babylonischen Turmes gegangen war, hatten viele
gemütstiefe Geister empfunden, dass diese von der römischen Kirche
in die Praxis, von Anselm in die Theorie eingeführte Richtung zum
Tode jeglicher wahrhaften Religion führe; der grösste von diesen war
Franz von Assisi gewesen. Gewiss gehört dieser wunderbare Mann
zu der Gruppe der Mystiker, doch muss er auch hier genannt werden,
denn die Ritter der echten christlichen Theologie erbten von ihm den
Lebensimpuls. Auch das scheint paradox, denn kein Heiliger war
weniger Theolog als Franz, doch ist es eine geschichtliche Thatsache,
und das Paradoxe verschwindet, sobald man einsieht, dass hier der
Hinweis auf das Evangelium und auf Jesus Christus die Verbindung
bildet. Dieser Laie, der gewaltsam in die Kirche eindringt, das Sacer-
dotium bei Seite schiebt und allem Volke das Wort Christi verkündet,
verkörpert eine heftige Reaktion der nach Religion sich sehnenden
Menschen gegen den kalten, unbegreiflichen, auf dialektischen Stelzen
einherschreitenden Dogmenglauben. Franz, der von Jugend auf unter
waldensischem Einfluss gestanden hatte, kannte ohne Zweifel das Evan-
gelium gut; 1) dass er nicht als Ketzer verbrannt wurde, müsste als
Wunder gelten, wenn es nicht offenbar ein Zufall wäre; seine Religion
lässt sich in den Worten Luther’s zusammenfassen: »Das Gesetz Christi
ist nicht Lehre, sondern Leben, nicht Wort, sondern das Wesen, nicht
Zeichen, sondern die Fülle selbst.« 2) Das von Franz der Vergessenheit
entrissene Evangelium ist nun der Fels, auf den die nordischen Theo-
logen sich zurückziehen, als ihnen sowohl die Unhaltbarkeit wie die
Gefährlichkeit des theologischen Rationalismus offenbar geworden ist.
Und zwar thun sie es mit der Leidenschaft der kampflustigen Über-
zeugung und unter dem Antrieb des soeben erlebten Beispiels. Im
direkten Gegensatz zu Thomas lehrt Duns, die höchste Seligkeit des
Himmels werde nicht das Erkennen, sondern das Lieben sein. Wie
eine solche Richtung mit der Zeit wirken musste, ist klar; wir sahen
ja vorhin Luther mit grosser Anerkennung von Scotus und Occam
sprechen, während er Thomas einen Schwätzer nannte. Die Zugrunde-
1) Siehe S. 613 und vergleiche den Schluss der Anmerkung 1 auf S. 643.
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