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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
Namentlich ist der Mythus von der Menschwerdung Gottes altindisches
Stammgut. Er liegt in dem Einheitsgedanken des allerersten Buches
des Rigveda eingeschlossen, tritt uns philosophisch umgestaltet in der
Lehre von der Identität des Atman mit dem Brahman entgegen, und
wurde vollendet anschaulich in der Gestalt des Gottmenschen Krishna,
zu deren Erklärung der Dichter des Bhagavadgeita Gott sprechen lässt:
"Immer wieder und immer wieder, wenn Erschlaffung der Tugend
eintritt und das Unrecht emporkommt, dann erzeuge ich mich selbst
(in Menschengestalt). Zum Schutze der Guten, den Bösen zum Ver-
derben, um Tugend zu festigen werde ich auf Erden geboren."1) Die
dogmatische Auffassung des Wesens Buddha's ist nur eine Modifikation
dieses Mythus. Auch die Vorstellung, dass der menschgewordene Gott
nur aus dem Leibe einer Jungfrau geboren werden konnte, ist ein alter
mythischer Zug und gehört entschieden zu der Klasse der Natursymbole.
Jene vielverspotteten Scholastiker, welche nicht allein Himmel und
Hölle, sondern auch die Dreieinigkeit, die Menschwerdung, die Partheno-
genese u. s. w. in Homer angedeutet und bei Aristoteles ausgesprochen
finden wollten, hatten gar nicht Unrecht. Der Altar und die Auf-
fassung des heiligen Mahles weisen ebenfalls bei den frühesten Christen
eher auf die gemeinsamen arischen Vorstellungen eines symbolischen
Naturkultes als auf das jüdische Sühnopfer für den erzürnten Gott
(worüber Näheres gegen Schluss des Kapitels). Kurz, kein einziger Zug
der christlichen Mythologie kann auf Originalität Anspruch erheben.
Freilich erhielten alle diese Vorstellungen im christlichen Lehrgebäude
eine weit abweichende Bedeutung -- nicht aber weil der mythische
Hintergrund ein wesentlich verschiedener gewesen wäre, sondern erstens,
weil nunmehr im Vordergrund die historische Persönlichkeit Jesu Christi
stand, zweitens, weil Metaphysik und Mythus der Indoeuropäer, von
den Menschen aus dem Völkerchaos bearbeitet, meistens bis zur Un-
kenntlichkeit entstellt wurden. Man hat in unserem Jahrhundert die
Erscheinung Christi als Mythus wegerklären wollen;2) die Wahrheit
liegt im genauen Gegenteil: Christus ist das einzige nicht Mythische
im Christentum; durch Jesus Christus, durch die kosmische Grösse
dieser Erscheinung (dazu der historisch-materialisierende Einfluss des
jüdischen Denkens) ist gleichsam Mythus Geschichte geworden.

Entstellung
der Mythen.

Ehe ich nun zur "inneren" Mythenbildung übergehe, muss ich
kurz jener fremden umgestaltenden Einflüsse auf das sichtbare Religions-

1) Bhagavadgeita, Buch IV, § 7 und 8.
2) Siehe S. 194.

Der Kampf.
Namentlich ist der Mythus von der Menschwerdung Gottes altindisches
Stammgut. Er liegt in dem Einheitsgedanken des allerersten Buches
des Rigveda eingeschlossen, tritt uns philosophisch umgestaltet in der
Lehre von der Identität des Âtman mit dem Brahman entgegen, und
wurde vollendet anschaulich in der Gestalt des Gottmenschen Krishna,
zu deren Erklärung der Dichter des Bhagavadgîtâ Gott sprechen lässt:
»Immer wieder und immer wieder, wenn Erschlaffung der Tugend
eintritt und das Unrecht emporkommt, dann erzeuge ich mich selbst
(in Menschengestalt). Zum Schutze der Guten, den Bösen zum Ver-
derben, um Tugend zu festigen werde ich auf Erden geboren.«1) Die
dogmatische Auffassung des Wesens Buddha’s ist nur eine Modifikation
dieses Mythus. Auch die Vorstellung, dass der menschgewordene Gott
nur aus dem Leibe einer Jungfrau geboren werden konnte, ist ein alter
mythischer Zug und gehört entschieden zu der Klasse der Natursymbole.
Jene vielverspotteten Scholastiker, welche nicht allein Himmel und
Hölle, sondern auch die Dreieinigkeit, die Menschwerdung, die Partheno-
genese u. s. w. in Homer angedeutet und bei Aristoteles ausgesprochen
finden wollten, hatten gar nicht Unrecht. Der Altar und die Auf-
fassung des heiligen Mahles weisen ebenfalls bei den frühesten Christen
eher auf die gemeinsamen arischen Vorstellungen eines symbolischen
Naturkultes als auf das jüdische Sühnopfer für den erzürnten Gott
(worüber Näheres gegen Schluss des Kapitels). Kurz, kein einziger Zug
der christlichen Mythologie kann auf Originalität Anspruch erheben.
Freilich erhielten alle diese Vorstellungen im christlichen Lehrgebäude
eine weit abweichende Bedeutung — nicht aber weil der mythische
Hintergrund ein wesentlich verschiedener gewesen wäre, sondern erstens,
weil nunmehr im Vordergrund die historische Persönlichkeit Jesu Christi
stand, zweitens, weil Metaphysik und Mythus der Indoeuropäer, von
den Menschen aus dem Völkerchaos bearbeitet, meistens bis zur Un-
kenntlichkeit entstellt wurden. Man hat in unserem Jahrhundert die
Erscheinung Christi als Mythus wegerklären wollen;2) die Wahrheit
liegt im genauen Gegenteil: Christus ist das einzige nicht Mythische
im Christentum; durch Jesus Christus, durch die kosmische Grösse
dieser Erscheinung (dazu der historisch-materialisierende Einfluss des
jüdischen Denkens) ist gleichsam Mythus Geschichte geworden.

Entstellung
der Mythen.

Ehe ich nun zur »inneren« Mythenbildung übergehe, muss ich
kurz jener fremden umgestaltenden Einflüsse auf das sichtbare Religions-

1) Bhagavadgîtâ, Buch IV, § 7 und 8.
2) Siehe S. 194.
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[556/0035] Der Kampf. Namentlich ist der Mythus von der Menschwerdung Gottes altindisches Stammgut. Er liegt in dem Einheitsgedanken des allerersten Buches des Rigveda eingeschlossen, tritt uns philosophisch umgestaltet in der Lehre von der Identität des Âtman mit dem Brahman entgegen, und wurde vollendet anschaulich in der Gestalt des Gottmenschen Krishna, zu deren Erklärung der Dichter des Bhagavadgîtâ Gott sprechen lässt: »Immer wieder und immer wieder, wenn Erschlaffung der Tugend eintritt und das Unrecht emporkommt, dann erzeuge ich mich selbst (in Menschengestalt). Zum Schutze der Guten, den Bösen zum Ver- derben, um Tugend zu festigen werde ich auf Erden geboren.« 1) Die dogmatische Auffassung des Wesens Buddha’s ist nur eine Modifikation dieses Mythus. Auch die Vorstellung, dass der menschgewordene Gott nur aus dem Leibe einer Jungfrau geboren werden konnte, ist ein alter mythischer Zug und gehört entschieden zu der Klasse der Natursymbole. Jene vielverspotteten Scholastiker, welche nicht allein Himmel und Hölle, sondern auch die Dreieinigkeit, die Menschwerdung, die Partheno- genese u. s. w. in Homer angedeutet und bei Aristoteles ausgesprochen finden wollten, hatten gar nicht Unrecht. Der Altar und die Auf- fassung des heiligen Mahles weisen ebenfalls bei den frühesten Christen eher auf die gemeinsamen arischen Vorstellungen eines symbolischen Naturkultes als auf das jüdische Sühnopfer für den erzürnten Gott (worüber Näheres gegen Schluss des Kapitels). Kurz, kein einziger Zug der christlichen Mythologie kann auf Originalität Anspruch erheben. Freilich erhielten alle diese Vorstellungen im christlichen Lehrgebäude eine weit abweichende Bedeutung — nicht aber weil der mythische Hintergrund ein wesentlich verschiedener gewesen wäre, sondern erstens, weil nunmehr im Vordergrund die historische Persönlichkeit Jesu Christi stand, zweitens, weil Metaphysik und Mythus der Indoeuropäer, von den Menschen aus dem Völkerchaos bearbeitet, meistens bis zur Un- kenntlichkeit entstellt wurden. Man hat in unserem Jahrhundert die Erscheinung Christi als Mythus wegerklären wollen; 2) die Wahrheit liegt im genauen Gegenteil: Christus ist das einzige nicht Mythische im Christentum; durch Jesus Christus, durch die kosmische Grösse dieser Erscheinung (dazu der historisch-materialisierende Einfluss des jüdischen Denkens) ist gleichsam Mythus Geschichte geworden. Ehe ich nun zur »inneren« Mythenbildung übergehe, muss ich kurz jener fremden umgestaltenden Einflüsse auf das sichtbare Religions- 1) Bhagavadgîtâ, Buch IV, § 7 und 8. 2) Siehe S. 194.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 556. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/35>, abgerufen am 23.04.2024.