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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
könne man alle Wissenschaften deduzieren, auch ohne sie studiert zu
haben. So erlebt denn der Absolutismus im selben Augenblick seine
doppelte Vollendung: einerseits in dem ernsten, sittlich hochstrebenden
System des Thomas, andererseits in der lückenlos konsequenten und
darum absurden Lehre des Ramon. Wie Roger Bacon, der gewaltige
Zeitgenosse dieser beiden irregeführten Geister, über Thomas von Aquin
urteilt, habe ich schon früher berichtet (S. 765); ähnlich und ebenso
treffend meinte später der Arzt, Mathematiker und Philosoph Cardanus,
der viel Zeit mit Ramon Lull verloren hatte: ein wunderlicher Meister!
er lehrt alle Wissenschaften, ohne selber eine einzige zu kennen.1)

Es verlohnt sich nicht, bei diesen Wahngebilden zu verweilen,
wenngleich die Thatsache, dass wir noch am Schlusse unseres 19. Jahr-
hunderts feierlich aufgefordert wurden, umzukehren und den Weg der
Unwahrhaftigkeit zu wandeln, ihnen ein traurig gegenwärtiges Inter-
esse verleiht. Lieber wenden wir uns zu jener in reichster Mannig-
faltigkeit prangenden Erscheinung der vielen Männer zurück, die ihrer
inneren Natur keinen Zwang anthaten, sondern in schlichter Wahr-
haftigkeit und Würde Gott und die Welt zu erkennen suchten. Doch
muss ich eine methodologische Bemerkung vorausschicken.

Die
Scholastik.

Bei der Gruppierung, die ich oben skizziert habe (in Theologen,
Mystiker, Humanisten und Naturforscher), ist der übliche Begriff einer
"scholastischen Periode" ganz ausgefallen. In der That, ich glaube, dass
er an dieser Stelle und überhaupt für eine lebendige Auffassung der philo-
sophisch-religiösen Entwickelung der germanischen Welt entbehrlich,
wenn nicht gar direkt schädlich ist; dem Goethe'schen Motto zu diesem
"Geschichtlichen Überblick" handelt er zuwider, indem er verbindet, was
nicht zusammengehört und zugleich die Glieder einer einzigen Kette
auseinander reisst. Buchstäblich genommen heisst Scholastiker einfach
Schulmann; der Name müsste also auf Männer beschränkt bleiben,
welche ihr Wissen lediglich aus Büchern schöpfen; das ist auch in
der That der Beigeschmack, den der Ausdruck in der Umgangssprache
erhalten hat. Genauer ist aber Folgendes. Ein Vorwiegen dialektischer
Haarspalterei zu Ungunsten der Beobachtung, ein Vorwiegen des Theo-
retischen zum Nachteil des Praktischen nennen wir "scholastisch";
jede abstrakt-geistige, rein logische Konstruktion dünkt uns "Scholastik",
und jeder Mann, der solche Systeme aus seinem Gehirn -- oder wie

1) Man denkt hierbei an Rousseau's: "Quel plus saur moyen de courir d'erreurs
en erreurs que la fureur de savoir tout?
" (Brief an Voltaire vom 10. 9. 1755).

Die Entstehung einer neuen Welt.
könne man alle Wissenschaften deduzieren, auch ohne sie studiert zu
haben. So erlebt denn der Absolutismus im selben Augenblick seine
doppelte Vollendung: einerseits in dem ernsten, sittlich hochstrebenden
System des Thomas, andererseits in der lückenlos konsequenten und
darum absurden Lehre des Ramon. Wie Roger Bacon, der gewaltige
Zeitgenosse dieser beiden irregeführten Geister, über Thomas von Aquin
urteilt, habe ich schon früher berichtet (S. 765); ähnlich und ebenso
treffend meinte später der Arzt, Mathematiker und Philosoph Cardanus,
der viel Zeit mit Ramon Lull verloren hatte: ein wunderlicher Meister!
er lehrt alle Wissenschaften, ohne selber eine einzige zu kennen.1)

Es verlohnt sich nicht, bei diesen Wahngebilden zu verweilen,
wenngleich die Thatsache, dass wir noch am Schlusse unseres 19. Jahr-
hunderts feierlich aufgefordert wurden, umzukehren und den Weg der
Unwahrhaftigkeit zu wandeln, ihnen ein traurig gegenwärtiges Inter-
esse verleiht. Lieber wenden wir uns zu jener in reichster Mannig-
faltigkeit prangenden Erscheinung der vielen Männer zurück, die ihrer
inneren Natur keinen Zwang anthaten, sondern in schlichter Wahr-
haftigkeit und Würde Gott und die Welt zu erkennen suchten. Doch
muss ich eine methodologische Bemerkung vorausschicken.

Die
Scholastik.

Bei der Gruppierung, die ich oben skizziert habe (in Theologen,
Mystiker, Humanisten und Naturforscher), ist der übliche Begriff einer
»scholastischen Periode« ganz ausgefallen. In der That, ich glaube, dass
er an dieser Stelle und überhaupt für eine lebendige Auffassung der philo-
sophisch-religiösen Entwickelung der germanischen Welt entbehrlich,
wenn nicht gar direkt schädlich ist; dem Goethe’schen Motto zu diesem
»Geschichtlichen Überblick« handelt er zuwider, indem er verbindet, was
nicht zusammengehört und zugleich die Glieder einer einzigen Kette
auseinander reisst. Buchstäblich genommen heisst Scholastiker einfach
Schulmann; der Name müsste also auf Männer beschränkt bleiben,
welche ihr Wissen lediglich aus Büchern schöpfen; das ist auch in
der That der Beigeschmack, den der Ausdruck in der Umgangssprache
erhalten hat. Genauer ist aber Folgendes. Ein Vorwiegen dialektischer
Haarspalterei zu Ungunsten der Beobachtung, ein Vorwiegen des Theo-
retischen zum Nachteil des Praktischen nennen wir »scholastisch«;
jede abstrakt-geistige, rein logische Konstruktion dünkt uns »Scholastik«,
und jeder Mann, der solche Systeme aus seinem Gehirn — oder wie

1) Man denkt hierbei an Rousseau’s: »Quel plus sûr moyen de courir d’erreurs
en erreurs que la fureur de savoir tout?
« (Brief an Voltaire vom 10. 9. 1755).
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[864/0343] Die Entstehung einer neuen Welt. könne man alle Wissenschaften deduzieren, auch ohne sie studiert zu haben. So erlebt denn der Absolutismus im selben Augenblick seine doppelte Vollendung: einerseits in dem ernsten, sittlich hochstrebenden System des Thomas, andererseits in der lückenlos konsequenten und darum absurden Lehre des Ramon. Wie Roger Bacon, der gewaltige Zeitgenosse dieser beiden irregeführten Geister, über Thomas von Aquin urteilt, habe ich schon früher berichtet (S. 765); ähnlich und ebenso treffend meinte später der Arzt, Mathematiker und Philosoph Cardanus, der viel Zeit mit Ramon Lull verloren hatte: ein wunderlicher Meister! er lehrt alle Wissenschaften, ohne selber eine einzige zu kennen. 1) Es verlohnt sich nicht, bei diesen Wahngebilden zu verweilen, wenngleich die Thatsache, dass wir noch am Schlusse unseres 19. Jahr- hunderts feierlich aufgefordert wurden, umzukehren und den Weg der Unwahrhaftigkeit zu wandeln, ihnen ein traurig gegenwärtiges Inter- esse verleiht. Lieber wenden wir uns zu jener in reichster Mannig- faltigkeit prangenden Erscheinung der vielen Männer zurück, die ihrer inneren Natur keinen Zwang anthaten, sondern in schlichter Wahr- haftigkeit und Würde Gott und die Welt zu erkennen suchten. Doch muss ich eine methodologische Bemerkung vorausschicken. Bei der Gruppierung, die ich oben skizziert habe (in Theologen, Mystiker, Humanisten und Naturforscher), ist der übliche Begriff einer »scholastischen Periode« ganz ausgefallen. In der That, ich glaube, dass er an dieser Stelle und überhaupt für eine lebendige Auffassung der philo- sophisch-religiösen Entwickelung der germanischen Welt entbehrlich, wenn nicht gar direkt schädlich ist; dem Goethe’schen Motto zu diesem »Geschichtlichen Überblick« handelt er zuwider, indem er verbindet, was nicht zusammengehört und zugleich die Glieder einer einzigen Kette auseinander reisst. Buchstäblich genommen heisst Scholastiker einfach Schulmann; der Name müsste also auf Männer beschränkt bleiben, welche ihr Wissen lediglich aus Büchern schöpfen; das ist auch in der That der Beigeschmack, den der Ausdruck in der Umgangssprache erhalten hat. Genauer ist aber Folgendes. Ein Vorwiegen dialektischer Haarspalterei zu Ungunsten der Beobachtung, ein Vorwiegen des Theo- retischen zum Nachteil des Praktischen nennen wir »scholastisch«; jede abstrakt-geistige, rein logische Konstruktion dünkt uns »Scholastik«, und jeder Mann, der solche Systeme aus seinem Gehirn — oder wie 1) Man denkt hierbei an Rousseau’s: »Quel plus sûr moyen de courir d’erreurs en erreurs que la fureur de savoir tout?« (Brief an Voltaire vom 10. 9. 1755).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 864. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/343>, abgerufen am 25.11.2024.