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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
des jüdischen und des indoeuropäischen Elementes in den verschie-
densten Verhältnissen miteinander gemischt. Betrachten wir also zu-
erst den mythologisch gestaltenden Einfluss der indoeuropäischen Welt-
auffassung auf die werdende christliche Religion, sodann den mäch-
tigen Impuls, den sie aus dem positiven, materialistischen Geist des
Judentumes empfing.

Eine ausführlich begründete Unterscheidung zwischen historischerArische
Mythologie.

Religion und mythischer Religion habe ich im fünften Kapitel gegeben;1)
ich setze sie hier als bekannt voraus. Die Mythologie ist eine meta-
physische Weltanschauung sub specie occulorum. Ihre Besonderheit,
ihr Charakter -- auch ihre Beschränkung -- besteht darin, dass
Ungesehenes durch sie auf ein Geschautes zurückgeführt wird. Der
Mythus erklärt nichts, giebt von nichts den Grund an, er bedeutet
nicht ein Suchen nach dem Woher und Wohin; ebensowenig ist er
eine Morallehre; am allerwenigsten ist er Geschichte. Schon aus dieser
einen Ueberlegung erhellt, dass die Mythologie der christlichen Kirche
zunächst gar nichts mit alttestamentlicher Chronologie und mit der
historischen Erscheinung Christi zu thun hat; sie ist ein neu umge-
staltetes und von fremder Hand vielfach verunstaltetes, neuen Be-
dürfnissen schlecht und recht angepasstes, altarisches Erbstück.2) Um
klare Vorstellungen über die mythologischen Bestandteile des Christen-
tums zu gewinnen, werden wir wohl daran thun, zwischen äusserer
und innerer Mythologie zu unterscheiden, d. h. zwischen der mytho-
logischen Gestaltung äusserer und der mythologischen Gestaltung innerer
Erfahrung. Dass Phöbus seinen Wagen durch den Himmel fährt, ist
der bildliche Ausdruck für ein äusseres Phänomen; dass die Erinnyen
den Verbrecher verfolgen, versinnbildlicht eine Thatsache des mensch-
lichen Innern. Auf beiden Gebieten hat die christliche, mythologische
Symbolik sehr tief gegriffen, und "die Symbolik ist nicht bloss Spiegel,
sie ist auch Quelle des Dogmas", wie der orthodox römisch-
katholische Wolfgang Menzel sagt.3) Symbolik als Quelle des Dogmas
ist offenbar mit Mythologie identisch.

Als ein vortreffliches Beispiel der nach äusserer Erfahrung ge-Äussere
Mythologie.

staltenden Mythologie möchte ich vor allem die Vorstellung der Drei-

1) Siehe S. 391 bis 415.
2) Man versteht, wie der fromme Tertullian, im Heidentum aufgewachsen,
von den Vorstellungen der hellenischen Poeten und Philosophen sagen konnte, sie
seien den christlichen tam consimilia! (Apol. XLVII).
3) Christliche Symbolik (1854), I, S. VIII.

Religion.
des jüdischen und des indoeuropäischen Elementes in den verschie-
densten Verhältnissen miteinander gemischt. Betrachten wir also zu-
erst den mythologisch gestaltenden Einfluss der indoeuropäischen Welt-
auffassung auf die werdende christliche Religion, sodann den mäch-
tigen Impuls, den sie aus dem positiven, materialistischen Geist des
Judentumes empfing.

Eine ausführlich begründete Unterscheidung zwischen historischerArische
Mythologie.

Religion und mythischer Religion habe ich im fünften Kapitel gegeben;1)
ich setze sie hier als bekannt voraus. Die Mythologie ist eine meta-
physische Weltanschauung sub specie occulorum. Ihre Besonderheit,
ihr Charakter — auch ihre Beschränkung — besteht darin, dass
Ungesehenes durch sie auf ein Geschautes zurückgeführt wird. Der
Mythus erklärt nichts, giebt von nichts den Grund an, er bedeutet
nicht ein Suchen nach dem Woher und Wohin; ebensowenig ist er
eine Morallehre; am allerwenigsten ist er Geschichte. Schon aus dieser
einen Ueberlegung erhellt, dass die Mythologie der christlichen Kirche
zunächst gar nichts mit alttestamentlicher Chronologie und mit der
historischen Erscheinung Christi zu thun hat; sie ist ein neu umge-
staltetes und von fremder Hand vielfach verunstaltetes, neuen Be-
dürfnissen schlecht und recht angepasstes, altarisches Erbstück.2) Um
klare Vorstellungen über die mythologischen Bestandteile des Christen-
tums zu gewinnen, werden wir wohl daran thun, zwischen äusserer
und innerer Mythologie zu unterscheiden, d. h. zwischen der mytho-
logischen Gestaltung äusserer und der mythologischen Gestaltung innerer
Erfahrung. Dass Phöbus seinen Wagen durch den Himmel fährt, ist
der bildliche Ausdruck für ein äusseres Phänomen; dass die Erinnyen
den Verbrecher verfolgen, versinnbildlicht eine Thatsache des mensch-
lichen Innern. Auf beiden Gebieten hat die christliche, mythologische
Symbolik sehr tief gegriffen, und »die Symbolik ist nicht bloss Spiegel,
sie ist auch Quelle des Dogmas«, wie der orthodox römisch-
katholische Wolfgang Menzel sagt.3) Symbolik als Quelle des Dogmas
ist offenbar mit Mythologie identisch.

Als ein vortreffliches Beispiel der nach äusserer Erfahrung ge-Äussere
Mythologie.

staltenden Mythologie möchte ich vor allem die Vorstellung der Drei-

1) Siehe S. 391 bis 415.
2) Man versteht, wie der fromme Tertullian, im Heidentum aufgewachsen,
von den Vorstellungen der hellenischen Poeten und Philosophen sagen konnte, sie
seien den christlichen tam consimilia! (Apol. XLVII).
3) Christliche Symbolik (1854), I, S. VIII.
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[553/0032] Religion. des jüdischen und des indoeuropäischen Elementes in den verschie- densten Verhältnissen miteinander gemischt. Betrachten wir also zu- erst den mythologisch gestaltenden Einfluss der indoeuropäischen Welt- auffassung auf die werdende christliche Religion, sodann den mäch- tigen Impuls, den sie aus dem positiven, materialistischen Geist des Judentumes empfing. Eine ausführlich begründete Unterscheidung zwischen historischer Religion und mythischer Religion habe ich im fünften Kapitel gegeben; 1) ich setze sie hier als bekannt voraus. Die Mythologie ist eine meta- physische Weltanschauung sub specie occulorum. Ihre Besonderheit, ihr Charakter — auch ihre Beschränkung — besteht darin, dass Ungesehenes durch sie auf ein Geschautes zurückgeführt wird. Der Mythus erklärt nichts, giebt von nichts den Grund an, er bedeutet nicht ein Suchen nach dem Woher und Wohin; ebensowenig ist er eine Morallehre; am allerwenigsten ist er Geschichte. Schon aus dieser einen Ueberlegung erhellt, dass die Mythologie der christlichen Kirche zunächst gar nichts mit alttestamentlicher Chronologie und mit der historischen Erscheinung Christi zu thun hat; sie ist ein neu umge- staltetes und von fremder Hand vielfach verunstaltetes, neuen Be- dürfnissen schlecht und recht angepasstes, altarisches Erbstück. 2) Um klare Vorstellungen über die mythologischen Bestandteile des Christen- tums zu gewinnen, werden wir wohl daran thun, zwischen äusserer und innerer Mythologie zu unterscheiden, d. h. zwischen der mytho- logischen Gestaltung äusserer und der mythologischen Gestaltung innerer Erfahrung. Dass Phöbus seinen Wagen durch den Himmel fährt, ist der bildliche Ausdruck für ein äusseres Phänomen; dass die Erinnyen den Verbrecher verfolgen, versinnbildlicht eine Thatsache des mensch- lichen Innern. Auf beiden Gebieten hat die christliche, mythologische Symbolik sehr tief gegriffen, und »die Symbolik ist nicht bloss Spiegel, sie ist auch Quelle des Dogmas«, wie der orthodox römisch- katholische Wolfgang Menzel sagt. 3) Symbolik als Quelle des Dogmas ist offenbar mit Mythologie identisch. Arische Mythologie. Als ein vortreffliches Beispiel der nach äusserer Erfahrung ge- staltenden Mythologie möchte ich vor allem die Vorstellung der Drei- Äussere Mythologie. 1) Siehe S. 391 bis 415. 2) Man versteht, wie der fromme Tertullian, im Heidentum aufgewachsen, von den Vorstellungen der hellenischen Poeten und Philosophen sagen konnte, sie seien den christlichen tam consimilia! (Apol. XLVII). 3) Christliche Symbolik (1854), I, S. VIII.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/32>, abgerufen am 19.04.2024.