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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wirtschaft.

Wer das mehrfach genannte Buch von Ehrenberg liest, wirdSyndikatswesen
und
Sozialismus.

erstaunen, wie ähnlich die finanziellen Zustände vor vier Jahrhunderten,
trotz aller tiefgreifenden Unterschiede des gesamten wirtschaftlichen
Zustandes, denen des heutigen Tages sind. Aktiengesellschaften gab
es schon im 13. Jahrhundert (z. B. die Kölner Schiffsmühlen;1) Wechsel
waren ebenfalls damals üblich und wurden von einem Ende Europa's
auf das andere ausgestellt; Versicherungsgesellschaften gab es in Flandern
schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts;2) Syndikate, künstliches Auf-
schrauben und Herunterschrauben der Preise, Bankrott -- -- -- alles
blühte damals wie heute.3) Dass der Jude -- dieser wichtige wirtschaft-
liche Faktor -- blühte, versteht sich von selbst. Van der Kindere
meldet lakonisch vom 14. Jahrhundert in Flandern: anständige Geld-
verleiher nahmen bis 61/2 %, Juden zwischen 60 % und 200 %;4)
auch die so sehr breitgetretene kurze Episode der Ghettos, zwischen
1500 und 1800, hat wenig oder nichts an der Wohlhabenheit und an
den Geschäftspraktiken dieses klugen Volkes geändert.

Diese doppelte Einsicht: einerseits in das Vorwalten grundlegender,
unveränderlicher Charaktereigenschaften, andrerseits in die relative Be-
ständigkeit unserer wirtschaftlichen Zustände (trotz allem schmerzlichen
Hin- und Herpendeln), wird sich, glaube ich, für die Beurteilung unseres
Jahrhunderts sehr förderlich erweisen, weil es lehrt, Erscheinungen mit

1) Lamprecht: Deutsches Städteleben, S. 30.
2) Van der Kindere, a. a. O., S. 216.
3) Martin Luther weist an verschiedenen Stellen auf "die mutwillige Teuerung"
des Getreides durch die Bauern, die er deswegen "Mörder und Diebe am Nächsten"
schilt (siehe seine Tischgespräche), und andererseits bringt seine Schrift Von Kauf-
handlung und Wucher
eine ergötzliche Schilderung der damals schon blühenden
Syndikate: "Wer ist so grob, der nicht sieht, wie die Gesellschaften nichts anders
sind, denn eitel rechte Monopolia? .... Sie haben alle Ware unter ihren Händen
und machen's damit, wie sie wollen, und treiben ohne alle Scheu die obberührten
Stücke, dass sie steigern oder niedrigen nach ihrem Gefallen und drücken und ver-
derben alle geringen Kaufleute, gleichwie der Hecht die kleinen Fische im Wasser,
gerade als wären sie Herren über Gottes Kreaturen, und frei von allen Gesetzen
des Glaubens und der Liebe. .... Darüber muss gleichwohl alle Welt ganz aus-
gesogen werden und alles Geld in ihren Schlauch sinken und schwemmen ....
Alle Welt muss in Gefahr und Verlust handeln, heuer gewinnen, über ein Jahr
verlieren, aber sie (die Kapitalisten) gewinnen immer und ewiglich und büssen
ihren Verlust mit ersteigertem Gewinn, und so ist's nicht Wunder, dass sie bald
aller Welt Gut zu sich reissen". Diese Worte sind im Jahre 1524 geschrieben;
wie man sieht, könnten sie von heute sein.
4) A. a. O., S. 222--23.
Wirtschaft.

Wer das mehrfach genannte Buch von Ehrenberg liest, wirdSyndikatswesen
und
Sozialismus.

erstaunen, wie ähnlich die finanziellen Zustände vor vier Jahrhunderten,
trotz aller tiefgreifenden Unterschiede des gesamten wirtschaftlichen
Zustandes, denen des heutigen Tages sind. Aktiengesellschaften gab
es schon im 13. Jahrhundert (z. B. die Kölner Schiffsmühlen;1) Wechsel
waren ebenfalls damals üblich und wurden von einem Ende Europa’s
auf das andere ausgestellt; Versicherungsgesellschaften gab es in Flandern
schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts;2) Syndikate, künstliches Auf-
schrauben und Herunterschrauben der Preise, Bankrott — — — alles
blühte damals wie heute.3) Dass der Jude — dieser wichtige wirtschaft-
liche Faktor — blühte, versteht sich von selbst. Van der Kindere
meldet lakonisch vom 14. Jahrhundert in Flandern: anständige Geld-
verleiher nahmen bis 6½ %, Juden zwischen 60 % und 200 %;4)
auch die so sehr breitgetretene kurze Episode der Ghettos, zwischen
1500 und 1800, hat wenig oder nichts an der Wohlhabenheit und an
den Geschäftspraktiken dieses klugen Volkes geändert.

Diese doppelte Einsicht: einerseits in das Vorwalten grundlegender,
unveränderlicher Charaktereigenschaften, andrerseits in die relative Be-
ständigkeit unserer wirtschaftlichen Zustände (trotz allem schmerzlichen
Hin- und Herpendeln), wird sich, glaube ich, für die Beurteilung unseres
Jahrhunderts sehr förderlich erweisen, weil es lehrt, Erscheinungen mit

1) Lamprecht: Deutsches Städteleben, S. 30.
2) Van der Kindere, a. a. O., S. 216.
3) Martin Luther weist an verschiedenen Stellen auf »die mutwillige Teuerung«
des Getreides durch die Bauern, die er deswegen »Mörder und Diebe am Nächsten«
schilt (siehe seine Tischgespräche), und andererseits bringt seine Schrift Von Kauf-
handlung und Wucher
eine ergötzliche Schilderung der damals schon blühenden
Syndikate: »Wer ist so grob, der nicht sieht, wie die Gesellschaften nichts anders
sind, denn eitel rechte Monopolia? .... Sie haben alle Ware unter ihren Händen
und machen’s damit, wie sie wollen, und treiben ohne alle Scheu die obberührten
Stücke, dass sie steigern oder niedrigen nach ihrem Gefallen und drücken und ver-
derben alle geringen Kaufleute, gleichwie der Hecht die kleinen Fische im Wasser,
gerade als wären sie Herren über Gottes Kreaturen, und frei von allen Gesetzen
des Glaubens und der Liebe. .... Darüber muss gleichwohl alle Welt ganz aus-
gesogen werden und alles Geld in ihren Schlauch sinken und schwemmen ....
Alle Welt muss in Gefahr und Verlust handeln, heuer gewinnen, über ein Jahr
verlieren, aber sie (die Kapitalisten) gewinnen immer und ewiglich und büssen
ihren Verlust mit ersteigertem Gewinn, und so ist’s nicht Wunder, dass sie bald
aller Welt Gut zu sich reissen«. Diese Worte sind im Jahre 1524 geschrieben;
wie man sieht, könnten sie von heute sein.
4) A. a. O., S. 222—23.
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[833/0312] Wirtschaft. Wer das mehrfach genannte Buch von Ehrenberg liest, wird erstaunen, wie ähnlich die finanziellen Zustände vor vier Jahrhunderten, trotz aller tiefgreifenden Unterschiede des gesamten wirtschaftlichen Zustandes, denen des heutigen Tages sind. Aktiengesellschaften gab es schon im 13. Jahrhundert (z. B. die Kölner Schiffsmühlen; 1) Wechsel waren ebenfalls damals üblich und wurden von einem Ende Europa’s auf das andere ausgestellt; Versicherungsgesellschaften gab es in Flandern schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts; 2) Syndikate, künstliches Auf- schrauben und Herunterschrauben der Preise, Bankrott — — — alles blühte damals wie heute. 3) Dass der Jude — dieser wichtige wirtschaft- liche Faktor — blühte, versteht sich von selbst. Van der Kindere meldet lakonisch vom 14. Jahrhundert in Flandern: anständige Geld- verleiher nahmen bis 6½ %, Juden zwischen 60 % und 200 %; 4) auch die so sehr breitgetretene kurze Episode der Ghettos, zwischen 1500 und 1800, hat wenig oder nichts an der Wohlhabenheit und an den Geschäftspraktiken dieses klugen Volkes geändert. Syndikatswesen und Sozialismus. Diese doppelte Einsicht: einerseits in das Vorwalten grundlegender, unveränderlicher Charaktereigenschaften, andrerseits in die relative Be- ständigkeit unserer wirtschaftlichen Zustände (trotz allem schmerzlichen Hin- und Herpendeln), wird sich, glaube ich, für die Beurteilung unseres Jahrhunderts sehr förderlich erweisen, weil es lehrt, Erscheinungen mit 1) Lamprecht: Deutsches Städteleben, S. 30. 2) Van der Kindere, a. a. O., S. 216. 3) Martin Luther weist an verschiedenen Stellen auf »die mutwillige Teuerung« des Getreides durch die Bauern, die er deswegen »Mörder und Diebe am Nächsten« schilt (siehe seine Tischgespräche), und andererseits bringt seine Schrift Von Kauf- handlung und Wucher eine ergötzliche Schilderung der damals schon blühenden Syndikate: »Wer ist so grob, der nicht sieht, wie die Gesellschaften nichts anders sind, denn eitel rechte Monopolia? .... Sie haben alle Ware unter ihren Händen und machen’s damit, wie sie wollen, und treiben ohne alle Scheu die obberührten Stücke, dass sie steigern oder niedrigen nach ihrem Gefallen und drücken und ver- derben alle geringen Kaufleute, gleichwie der Hecht die kleinen Fische im Wasser, gerade als wären sie Herren über Gottes Kreaturen, und frei von allen Gesetzen des Glaubens und der Liebe. .... Darüber muss gleichwohl alle Welt ganz aus- gesogen werden und alles Geld in ihren Schlauch sinken und schwemmen .... Alle Welt muss in Gefahr und Verlust handeln, heuer gewinnen, über ein Jahr verlieren, aber sie (die Kapitalisten) gewinnen immer und ewiglich und büssen ihren Verlust mit ersteigertem Gewinn, und so ist’s nicht Wunder, dass sie bald aller Welt Gut zu sich reissen«. Diese Worte sind im Jahre 1524 geschrieben; wie man sieht, könnten sie von heute sein. 4) A. a. O., S. 222—23.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 833. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/312>, abgerufen am 15.05.2024.