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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Rechte an gemeinsamen Weiden und Wäldern besassen.1) Diese
Bauern sind inzwischen alle ihres Besitzes beraubt worden; einfach
beraubt. Jedes Mittel war dazu gut genug. Gab kein Krieg den
Anlass, sie zu verjagen, so wurden bestehende Gesetze gefälscht und
neue Gesetze von den Machthabern erlassen, welche das Gut der
Kleinen zu Gunsten der Grossen konfiszierten. Doch nicht die Bauern
allein, auch die kleinen Landwirte mussten vertilgt werden: das ge-
schah auf indirektem Wege, indem sie durch die Konkurrenz der
Grossen ruiniert und ihre Güter aufgekauft wurden.2) Welche grosse
Härten das mit sich führte, mag ein einziges Beispiel veranschaulichen:
im Jahre 1495 verdiente der englische Landarbeiter, der auf Tagelohn
ausging, genau dreimal so viel (an Kaufwert) als hundert Jahre später!
Wie man sieht, mancher tüchtige Sohn hat bei allem Fleiss nur ein
Drittel so viel wie sein Vater verdienen können. Ein so plötzlicher
Sturz, der gerade die produzierende Klasse des Volkes trifft, ist einfach
furchtbar; man begreift nicht, dass bei einer derartigen wirtschaft-
lichen Katastrophe der ganze Staat nicht aus den Fugen ging. Im
Laufe dieses einen Jahrhunderts waren fast alle Bauern zu Tage-
löhnern herabgedrückt worden. Und in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts war der -- wenige Jahrhunderte früher unabhängige -- Bauern-
stand so tief gesunken, dass seine Mitglieder ohne die milden Gaben
der "Herren" oder den Zuschuss der Gemeindekasse nicht auskommen
konnten, da das Maximalverdienst des ganzen Jahres nicht hinreichte,
um die Minimalmenge des zum Leben Unentbehrlichen zu kaufen.3)

1) Gibbons: Industrial history of England, 5. ed., p. 40 fg. und 108 fg. Wir
finden die Erbpacht noch heute im östlichen Europa, wo unter türkischer Herrschaft
alles seit dem 15. Jahrhundert unverändert blieb; auf den grossherzoglichen Domänen
in Mecklenburg Schwerin wurde sie im Jahre 1867 wieder eingeführt.
2) Ein Vorgang, der besonders leicht in England zu verfolgen ist, weil die
politische Entwickelung dort eine geradlinige war und das Innere des Landes vom
15. Jahrhundert ab nicht mehr durch Kriege verheert worden ist; hierzu leistet
das berühmte Werk von Rogers: Six centuries of work and wages vorzügliche Dienste.
(Ich citiere nach der wenig befriedigenden deutschen Übersetzung von Pannwitz, 1896.)
Doch war der Prozess in allen Ländern Mitteleuropa's wesentlich derselbe; die
heutigen grossen Besitzungen sind samt und sonders gestohlen und erschwindelt
worden, da sie den Grundherren zwar als juristisches Eigentum unterstanden, doch
der thatsächliche, rechtliche Besitz der Erbpächter waren. (Man schlage in jedem
Rechtslehrbuch nach unter Emphyteusis.)
3) Rogers, a. a. O., Kap. 17. Dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts an
dieser unwürdigen Stellung des Landarbeiters nichts geändert worden war (wenigstens
nicht in England), findet man ausführlich belegt in Herbert Spencer: The man versus

Die Entstehung einer neuen Welt.
Rechte an gemeinsamen Weiden und Wäldern besassen.1) Diese
Bauern sind inzwischen alle ihres Besitzes beraubt worden; einfach
beraubt. Jedes Mittel war dazu gut genug. Gab kein Krieg den
Anlass, sie zu verjagen, so wurden bestehende Gesetze gefälscht und
neue Gesetze von den Machthabern erlassen, welche das Gut der
Kleinen zu Gunsten der Grossen konfiszierten. Doch nicht die Bauern
allein, auch die kleinen Landwirte mussten vertilgt werden: das ge-
schah auf indirektem Wege, indem sie durch die Konkurrenz der
Grossen ruiniert und ihre Güter aufgekauft wurden.2) Welche grosse
Härten das mit sich führte, mag ein einziges Beispiel veranschaulichen:
im Jahre 1495 verdiente der englische Landarbeiter, der auf Tagelohn
ausging, genau dreimal so viel (an Kaufwert) als hundert Jahre später!
Wie man sieht, mancher tüchtige Sohn hat bei allem Fleiss nur ein
Drittel so viel wie sein Vater verdienen können. Ein so plötzlicher
Sturz, der gerade die produzierende Klasse des Volkes trifft, ist einfach
furchtbar; man begreift nicht, dass bei einer derartigen wirtschaft-
lichen Katastrophe der ganze Staat nicht aus den Fugen ging. Im
Laufe dieses einen Jahrhunderts waren fast alle Bauern zu Tage-
löhnern herabgedrückt worden. Und in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts war der — wenige Jahrhunderte früher unabhängige — Bauern-
stand so tief gesunken, dass seine Mitglieder ohne die milden Gaben
der »Herren« oder den Zuschuss der Gemeindekasse nicht auskommen
konnten, da das Maximalverdienst des ganzen Jahres nicht hinreichte,
um die Minimalmenge des zum Leben Unentbehrlichen zu kaufen.3)

1) Gibbons: Industrial history of England, 5. ed., p. 40 fg. und 108 fg. Wir
finden die Erbpacht noch heute im östlichen Europa, wo unter türkischer Herrschaft
alles seit dem 15. Jahrhundert unverändert blieb; auf den grossherzoglichen Domänen
in Mecklenburg Schwerin wurde sie im Jahre 1867 wieder eingeführt.
2) Ein Vorgang, der besonders leicht in England zu verfolgen ist, weil die
politische Entwickelung dort eine geradlinige war und das Innere des Landes vom
15. Jahrhundert ab nicht mehr durch Kriege verheert worden ist; hierzu leistet
das berühmte Werk von Rogers: Six centuries of work and wages vorzügliche Dienste.
(Ich citiere nach der wenig befriedigenden deutschen Übersetzung von Pannwitz, 1896.)
Doch war der Prozess in allen Ländern Mitteleuropa’s wesentlich derselbe; die
heutigen grossen Besitzungen sind samt und sonders gestohlen und erschwindelt
worden, da sie den Grundherren zwar als juristisches Eigentum unterstanden, doch
der thatsächliche, rechtliche Besitz der Erbpächter waren. (Man schlage in jedem
Rechtslehrbuch nach unter Emphyteusis.)
3) Rogers, a. a. O., Kap. 17. Dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts an
dieser unwürdigen Stellung des Landarbeiters nichts geändert worden war (wenigstens
nicht in England), findet man ausführlich belegt in Herbert Spencer: The man versus
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[830/0309] Die Entstehung einer neuen Welt. Rechte an gemeinsamen Weiden und Wäldern besassen. 1) Diese Bauern sind inzwischen alle ihres Besitzes beraubt worden; einfach beraubt. Jedes Mittel war dazu gut genug. Gab kein Krieg den Anlass, sie zu verjagen, so wurden bestehende Gesetze gefälscht und neue Gesetze von den Machthabern erlassen, welche das Gut der Kleinen zu Gunsten der Grossen konfiszierten. Doch nicht die Bauern allein, auch die kleinen Landwirte mussten vertilgt werden: das ge- schah auf indirektem Wege, indem sie durch die Konkurrenz der Grossen ruiniert und ihre Güter aufgekauft wurden. 2) Welche grosse Härten das mit sich führte, mag ein einziges Beispiel veranschaulichen: im Jahre 1495 verdiente der englische Landarbeiter, der auf Tagelohn ausging, genau dreimal so viel (an Kaufwert) als hundert Jahre später! Wie man sieht, mancher tüchtige Sohn hat bei allem Fleiss nur ein Drittel so viel wie sein Vater verdienen können. Ein so plötzlicher Sturz, der gerade die produzierende Klasse des Volkes trifft, ist einfach furchtbar; man begreift nicht, dass bei einer derartigen wirtschaft- lichen Katastrophe der ganze Staat nicht aus den Fugen ging. Im Laufe dieses einen Jahrhunderts waren fast alle Bauern zu Tage- löhnern herabgedrückt worden. Und in der ersten Hälfte des 18. Jahr- hunderts war der — wenige Jahrhunderte früher unabhängige — Bauern- stand so tief gesunken, dass seine Mitglieder ohne die milden Gaben der »Herren« oder den Zuschuss der Gemeindekasse nicht auskommen konnten, da das Maximalverdienst des ganzen Jahres nicht hinreichte, um die Minimalmenge des zum Leben Unentbehrlichen zu kaufen. 3) 1) Gibbons: Industrial history of England, 5. ed., p. 40 fg. und 108 fg. Wir finden die Erbpacht noch heute im östlichen Europa, wo unter türkischer Herrschaft alles seit dem 15. Jahrhundert unverändert blieb; auf den grossherzoglichen Domänen in Mecklenburg Schwerin wurde sie im Jahre 1867 wieder eingeführt. 2) Ein Vorgang, der besonders leicht in England zu verfolgen ist, weil die politische Entwickelung dort eine geradlinige war und das Innere des Landes vom 15. Jahrhundert ab nicht mehr durch Kriege verheert worden ist; hierzu leistet das berühmte Werk von Rogers: Six centuries of work and wages vorzügliche Dienste. (Ich citiere nach der wenig befriedigenden deutschen Übersetzung von Pannwitz, 1896.) Doch war der Prozess in allen Ländern Mitteleuropa’s wesentlich derselbe; die heutigen grossen Besitzungen sind samt und sonders gestohlen und erschwindelt worden, da sie den Grundherren zwar als juristisches Eigentum unterstanden, doch der thatsächliche, rechtliche Besitz der Erbpächter waren. (Man schlage in jedem Rechtslehrbuch nach unter Emphyteusis.) 3) Rogers, a. a. O., Kap. 17. Dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts an dieser unwürdigen Stellung des Landarbeiters nichts geändert worden war (wenigstens nicht in England), findet man ausführlich belegt in Herbert Spencer: The man versus

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 830. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/309>, abgerufen am 25.11.2024.