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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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sie hätten "das Papier erfunden", nur teilweise den Thatsachen. Die
Chinesen, die selber einen dem unsrigen durchaus ähnlichen Papyrus
benutzten,1) und die Nachteile hiervon kannten, verfielen darauf, aus
geeigneten Pflanzenfasern auf künstlichem Wege ein dem Papier ana-
loges Schreibmaterial herzustellen: das ist ihr Beitrag zur Erfindung des
Papieres. Chinesische Kriegsgefangene brachten nun (etwa im 7. Jahr-
hundert?) diese Industrie nach Samarkand, einer Stadt, die dem arabischen
Khalifat unterstand und meist von fast unabhängigen türkischen Fürsten
regiert wurde, deren Einwohnerschaft aber damals zum überwiegenden
Teil aus persischen Iraniern bestand. Diese Iranier -- unsere indo-
europäischen Vettern -- fassten die unbeholfenen chinesischen Versuche
mit dem höheren Verständnis einer ungleich reicheren und phantasie-
volleren Begabung auf und verwandelten sie gänzlich, indem sie "fast
sofort" die Bereitung des Papieres aus Hadern oder Lumpen erfanden --
ein so auffallender Vorgang (namentlich wenn man bedenkt, dass die
Chinesen bis zum heutigen Tage nicht weiter gekommen sind!), dass
Herr Karabacek wohl berechtigt ist, auszurufen: "ein Sieg des fremden
Ingeniums über die Erfindungsgabe der Chinesen!" Das ist also die
erste Etappe: ein indoeuropäisches Volk, angeregt durch das praktische,
doch sehr besckränkte Geschick der Chinesen, erfindet "fast sofort" das
Papier; Samarkand wird auf längere Zeit die Metropole der Papier-
fabrikation. -- Nun folgt die zweite und ebenso lehrreiche Etappe.
Im Jahre 795 liess Haraun-al-Rascheid (der Zeitgenosse Karl's des Grossen)
Arbeiter aus Samarkand kommen und eine Papierfabrik in Bagdad er-
richten. Die Zubereitung wurde als Staatsgeheimnis bewahrt; doch
überall, wohin Araber kamen, begleitete sie das Papier, namentlich auch
nach dem maurischen Spanien, jenem Lande, wo die Juden so lange
das grosse Wort führten und wo nachgewiesenermassen Papier seit
Anfang des 10. Jahrhunderts im Gebrauch stand. Dagegen gelangte
fast gar kein Papier nach dem germanischen Europa, und wenn auch,
dann nur als geheimnisvoller Stoff unbekannter Herkunft. Das dauerte
bis in das 13. Jahrhundert. Fast ein halbes Jahrtausend haben also
die Semiten und Halbsemiten das Monopol des Papiers gehabt, Zeit
genug, wenn sie ein Fünkchen Erfindungskraft besessen, wenn sie nur

1) Der Papyrus der Chinesen ist das dünngeschnittene Markgewebe einer
Aralia, wie der Papyrus der Alten das dünngeschnittene Markgewebe der Cyperus
papyrus
war. Der Gebrauch davon hat sich in China für das Malen mit Wasser-
farben u. s. w. noch bis heute erhalten. Für Einzelheiten vergleiche man Wiesner:
Die Rohstoffe des Pflanzenreiches, 1873, S. 458 fg.

Industrie.
sie hätten »das Papier erfunden«, nur teilweise den Thatsachen. Die
Chinesen, die selber einen dem unsrigen durchaus ähnlichen Papyrus
benutzten,1) und die Nachteile hiervon kannten, verfielen darauf, aus
geeigneten Pflanzenfasern auf künstlichem Wege ein dem Papier ana-
loges Schreibmaterial herzustellen: das ist ihr Beitrag zur Erfindung des
Papieres. Chinesische Kriegsgefangene brachten nun (etwa im 7. Jahr-
hundert?) diese Industrie nach Samarkand, einer Stadt, die dem arabischen
Khalifat unterstand und meist von fast unabhängigen türkischen Fürsten
regiert wurde, deren Einwohnerschaft aber damals zum überwiegenden
Teil aus persischen Iraniern bestand. Diese Iranier — unsere indo-
europäischen Vettern — fassten die unbeholfenen chinesischen Versuche
mit dem höheren Verständnis einer ungleich reicheren und phantasie-
volleren Begabung auf und verwandelten sie gänzlich, indem sie »fast
sofort« die Bereitung des Papieres aus Hadern oder Lumpen erfanden —
ein so auffallender Vorgang (namentlich wenn man bedenkt, dass die
Chinesen bis zum heutigen Tage nicht weiter gekommen sind!), dass
Herr Karabacek wohl berechtigt ist, auszurufen: »ein Sieg des fremden
Ingeniums über die Erfindungsgabe der Chinesen!« Das ist also die
erste Etappe: ein indoeuropäisches Volk, angeregt durch das praktische,
doch sehr besckränkte Geschick der Chinesen, erfindet »fast sofort« das
Papier; Samarkand wird auf längere Zeit die Metropole der Papier-
fabrikation. — Nun folgt die zweite und ebenso lehrreiche Etappe.
Im Jahre 795 liess Harûn-al-Raschîd (der Zeitgenosse Karl’s des Grossen)
Arbeiter aus Samarkand kommen und eine Papierfabrik in Bagdad er-
richten. Die Zubereitung wurde als Staatsgeheimnis bewahrt; doch
überall, wohin Araber kamen, begleitete sie das Papier, namentlich auch
nach dem maurischen Spanien, jenem Lande, wo die Juden so lange
das grosse Wort führten und wo nachgewiesenermassen Papier seit
Anfang des 10. Jahrhunderts im Gebrauch stand. Dagegen gelangte
fast gar kein Papier nach dem germanischen Europa, und wenn auch,
dann nur als geheimnisvoller Stoff unbekannter Herkunft. Das dauerte
bis in das 13. Jahrhundert. Fast ein halbes Jahrtausend haben also
die Semiten und Halbsemiten das Monopol des Papiers gehabt, Zeit
genug, wenn sie ein Fünkchen Erfindungskraft besessen, wenn sie nur

1) Der Papyrus der Chinesen ist das dünngeschnittene Markgewebe einer
Aralia, wie der Papyrus der Alten das dünngeschnittene Markgewebe der Cyperus
papyrus
war. Der Gebrauch davon hat sich in China für das Malen mit Wasser-
farben u. s. w. noch bis heute erhalten. Für Einzelheiten vergleiche man Wiesner:
Die Rohstoffe des Pflanzenreiches, 1873, S. 458 fg.
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[817/0296] Industrie. sie hätten »das Papier erfunden«, nur teilweise den Thatsachen. Die Chinesen, die selber einen dem unsrigen durchaus ähnlichen Papyrus benutzten, 1) und die Nachteile hiervon kannten, verfielen darauf, aus geeigneten Pflanzenfasern auf künstlichem Wege ein dem Papier ana- loges Schreibmaterial herzustellen: das ist ihr Beitrag zur Erfindung des Papieres. Chinesische Kriegsgefangene brachten nun (etwa im 7. Jahr- hundert?) diese Industrie nach Samarkand, einer Stadt, die dem arabischen Khalifat unterstand und meist von fast unabhängigen türkischen Fürsten regiert wurde, deren Einwohnerschaft aber damals zum überwiegenden Teil aus persischen Iraniern bestand. Diese Iranier — unsere indo- europäischen Vettern — fassten die unbeholfenen chinesischen Versuche mit dem höheren Verständnis einer ungleich reicheren und phantasie- volleren Begabung auf und verwandelten sie gänzlich, indem sie »fast sofort« die Bereitung des Papieres aus Hadern oder Lumpen erfanden — ein so auffallender Vorgang (namentlich wenn man bedenkt, dass die Chinesen bis zum heutigen Tage nicht weiter gekommen sind!), dass Herr Karabacek wohl berechtigt ist, auszurufen: »ein Sieg des fremden Ingeniums über die Erfindungsgabe der Chinesen!« Das ist also die erste Etappe: ein indoeuropäisches Volk, angeregt durch das praktische, doch sehr besckränkte Geschick der Chinesen, erfindet »fast sofort« das Papier; Samarkand wird auf längere Zeit die Metropole der Papier- fabrikation. — Nun folgt die zweite und ebenso lehrreiche Etappe. Im Jahre 795 liess Harûn-al-Raschîd (der Zeitgenosse Karl’s des Grossen) Arbeiter aus Samarkand kommen und eine Papierfabrik in Bagdad er- richten. Die Zubereitung wurde als Staatsgeheimnis bewahrt; doch überall, wohin Araber kamen, begleitete sie das Papier, namentlich auch nach dem maurischen Spanien, jenem Lande, wo die Juden so lange das grosse Wort führten und wo nachgewiesenermassen Papier seit Anfang des 10. Jahrhunderts im Gebrauch stand. Dagegen gelangte fast gar kein Papier nach dem germanischen Europa, und wenn auch, dann nur als geheimnisvoller Stoff unbekannter Herkunft. Das dauerte bis in das 13. Jahrhundert. Fast ein halbes Jahrtausend haben also die Semiten und Halbsemiten das Monopol des Papiers gehabt, Zeit genug, wenn sie ein Fünkchen Erfindungskraft besessen, wenn sie nur 1) Der Papyrus der Chinesen ist das dünngeschnittene Markgewebe einer Aralia, wie der Papyrus der Alten das dünngeschnittene Markgewebe der Cyperus papyrus war. Der Gebrauch davon hat sich in China für das Malen mit Wasser- farben u. s. w. noch bis heute erhalten. Für Einzelheiten vergleiche man Wiesner: Die Rohstoffe des Pflanzenreiches, 1873, S. 458 fg.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 817. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/296>, abgerufen am 18.05.2024.