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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
meister der Gewebespannung; dieselbe Kraft der Phantasie, welche
diese bedeutenden Männer befähigte, uns zu bereichern, hat sie also
selber in einem gewissen Sinne eingeschränkt, so dass sie von Geistern,
die ihnen durchaus untergeordnet waren, sich haben in dieser Beziehung
zurechtweisen lassen müssen. "Solchen Männern", schrieb ich, "ver-
danken wir alle wirklichen Fortschritte der Wissenschaft; denn, was
man auch über ihre Theorien denken mag, sie haben nicht allein
unsere Kenntnisse durch die Auffindung zahlreicher Thatsachen, sondern
ebenfalls unsere Phantasie durch die Aufstellung neuer Ideen be-
reichert; die Theorien kommen und gehen, doch was die Phantasie
einmal besitzt, ist unvergänglich." Es ergab sich aber für mich aus
dieser Untersuchung ein zweites Ergebnis, prinzipiell von noch grösserer
Bedeutung: unsere Phantasie ist sehr beschränkt. Wenn man die Wissen-
schaften bis ins Altertum zurückverfolgt, fällt es auf, wie wenige
neue Vorstellungen zu den nicht sehr zahlreichen alten im Laufe der
Zeiten hinzugekommen sind; dabei lernt man einsehen, dass einzig
und allein die Beobachtung der Natur unsere Phantasie
bereichert,
wogegen alles Denken der Welt kein Samenkörnchen
hinzusteuert.1)

Das Ziel
unserer
Wissenschaft.

Noch ein letztes Wort.

Die Mathematiker -- nie verlegene Leute, wie wir gesehen
haben -- belieben zu sagen: der Kreis ist eine Ellipse, in der beide
Brennpunkte zusammenlaufen. Wird dieses Zusammenlaufen der Brenn-
punkte in unseren Wissenschaften jemals stattfinden? Ist es anzunehmen,
dass menschliche Anschauung und Natur jemals sich genau decken
werden, dass also unser Erkennen der Dinge absolute Erkenntnis sein
wird? Was vorhergeht, zeigt, wie wahnwitzig eine derartige Voraus-
setzung ist; ich bin auch überzeugt, behaupten zu dürfen, kein einziger
ernster Naturforscher unserer Tage hege sie, gewiss kein germanischer.2)
Selbst dort wo (wie heute leider so häufig der Fall) die philosophische
Ausbildung des Geistes zurückgeblieben ist, finden wir diese Einsicht,

1) Houston Stewart Chamberlain: Recherches sur la Seve ascendante, Neuchatel,
1897, p. 11. Dass die Armut an "Ideen" (wie auch er sie nennt) eine Haupt-
ursache der Beschränktheit unseres Wissens sei, hebt schon Locke hervor (Human
Understanding,
Buch 4, Kap. 3, § 23).
2) Bei unseren vielen vortrefflichen jüdischen Gelehrten mag die Sache freilich
anders liegen; denn wenn ein Volk während Jahrtausenden, ohne jemals etwas
gelernt zu haben, alles gewusst hat, ist es bitter, nunmehr mühsame und glänzende
Studien zu machen, um schliesslich zugeben zu müssen, unser Wissen sei durch
die menschliche Natur ewig und eng beschränkt. Nachsicht ist hier am Platze.

Die Entstehung einer neuen Welt.
meister der Gewebespannung; dieselbe Kraft der Phantasie, welche
diese bedeutenden Männer befähigte, uns zu bereichern, hat sie also
selber in einem gewissen Sinne eingeschränkt, so dass sie von Geistern,
die ihnen durchaus untergeordnet waren, sich haben in dieser Beziehung
zurechtweisen lassen müssen. »Solchen Männern«, schrieb ich, »ver-
danken wir alle wirklichen Fortschritte der Wissenschaft; denn, was
man auch über ihre Theorien denken mag, sie haben nicht allein
unsere Kenntnisse durch die Auffindung zahlreicher Thatsachen, sondern
ebenfalls unsere Phantasie durch die Aufstellung neuer Ideen be-
reichert; die Theorien kommen und gehen, doch was die Phantasie
einmal besitzt, ist unvergänglich.« Es ergab sich aber für mich aus
dieser Untersuchung ein zweites Ergebnis, prinzipiell von noch grösserer
Bedeutung: unsere Phantasie ist sehr beschränkt. Wenn man die Wissen-
schaften bis ins Altertum zurückverfolgt, fällt es auf, wie wenige
neue Vorstellungen zu den nicht sehr zahlreichen alten im Laufe der
Zeiten hinzugekommen sind; dabei lernt man einsehen, dass einzig
und allein die Beobachtung der Natur unsere Phantasie
bereichert,
wogegen alles Denken der Welt kein Samenkörnchen
hinzusteuert.1)

Das Ziel
unserer
Wissenschaft.

Noch ein letztes Wort.

Die Mathematiker — nie verlegene Leute, wie wir gesehen
haben — belieben zu sagen: der Kreis ist eine Ellipse, in der beide
Brennpunkte zusammenlaufen. Wird dieses Zusammenlaufen der Brenn-
punkte in unseren Wissenschaften jemals stattfinden? Ist es anzunehmen,
dass menschliche Anschauung und Natur jemals sich genau decken
werden, dass also unser Erkennen der Dinge absolute Erkenntnis sein
wird? Was vorhergeht, zeigt, wie wahnwitzig eine derartige Voraus-
setzung ist; ich bin auch überzeugt, behaupten zu dürfen, kein einziger
ernster Naturforscher unserer Tage hege sie, gewiss kein germanischer.2)
Selbst dort wo (wie heute leider so häufig der Fall) die philosophische
Ausbildung des Geistes zurückgeblieben ist, finden wir diese Einsicht,

1) Houston Stewart Chamberlain: Recherches sur la Sève ascendante, Neuchatel,
1897, p. 11. Dass die Armut an »Ideen« (wie auch er sie nennt) eine Haupt-
ursache der Beschränktheit unseres Wissens sei, hebt schon Locke hervor (Human
Understanding,
Buch 4, Kap. 3, § 23).
2) Bei unseren vielen vortrefflichen jüdischen Gelehrten mag die Sache freilich
anders liegen; denn wenn ein Volk während Jahrtausenden, ohne jemals etwas
gelernt zu haben, alles gewusst hat, ist es bitter, nunmehr mühsame und glänzende
Studien zu machen, um schliesslich zugeben zu müssen, unser Wissen sei durch
die menschliche Natur ewig und eng beschränkt. Nachsicht ist hier am Platze.
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[806/0285] Die Entstehung einer neuen Welt. meister der Gewebespannung; dieselbe Kraft der Phantasie, welche diese bedeutenden Männer befähigte, uns zu bereichern, hat sie also selber in einem gewissen Sinne eingeschränkt, so dass sie von Geistern, die ihnen durchaus untergeordnet waren, sich haben in dieser Beziehung zurechtweisen lassen müssen. »Solchen Männern«, schrieb ich, »ver- danken wir alle wirklichen Fortschritte der Wissenschaft; denn, was man auch über ihre Theorien denken mag, sie haben nicht allein unsere Kenntnisse durch die Auffindung zahlreicher Thatsachen, sondern ebenfalls unsere Phantasie durch die Aufstellung neuer Ideen be- reichert; die Theorien kommen und gehen, doch was die Phantasie einmal besitzt, ist unvergänglich.« Es ergab sich aber für mich aus dieser Untersuchung ein zweites Ergebnis, prinzipiell von noch grösserer Bedeutung: unsere Phantasie ist sehr beschränkt. Wenn man die Wissen- schaften bis ins Altertum zurückverfolgt, fällt es auf, wie wenige neue Vorstellungen zu den nicht sehr zahlreichen alten im Laufe der Zeiten hinzugekommen sind; dabei lernt man einsehen, dass einzig und allein die Beobachtung der Natur unsere Phantasie bereichert, wogegen alles Denken der Welt kein Samenkörnchen hinzusteuert. 1) Noch ein letztes Wort. Die Mathematiker — nie verlegene Leute, wie wir gesehen haben — belieben zu sagen: der Kreis ist eine Ellipse, in der beide Brennpunkte zusammenlaufen. Wird dieses Zusammenlaufen der Brenn- punkte in unseren Wissenschaften jemals stattfinden? Ist es anzunehmen, dass menschliche Anschauung und Natur jemals sich genau decken werden, dass also unser Erkennen der Dinge absolute Erkenntnis sein wird? Was vorhergeht, zeigt, wie wahnwitzig eine derartige Voraus- setzung ist; ich bin auch überzeugt, behaupten zu dürfen, kein einziger ernster Naturforscher unserer Tage hege sie, gewiss kein germanischer. 2) Selbst dort wo (wie heute leider so häufig der Fall) die philosophische Ausbildung des Geistes zurückgeblieben ist, finden wir diese Einsicht, 1) Houston Stewart Chamberlain: Recherches sur la Sève ascendante, Neuchatel, 1897, p. 11. Dass die Armut an »Ideen« (wie auch er sie nennt) eine Haupt- ursache der Beschränktheit unseres Wissens sei, hebt schon Locke hervor (Human Understanding, Buch 4, Kap. 3, § 23). 2) Bei unseren vielen vortrefflichen jüdischen Gelehrten mag die Sache freilich anders liegen; denn wenn ein Volk während Jahrtausenden, ohne jemals etwas gelernt zu haben, alles gewusst hat, ist es bitter, nunmehr mühsame und glänzende Studien zu machen, um schliesslich zugeben zu müssen, unser Wissen sei durch die menschliche Natur ewig und eng beschränkt. Nachsicht ist hier am Platze.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 806. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/285>, abgerufen am 22.11.2024.