Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. Stickstoff eingeht, ist es dem Unwissenden unmöglich, den Sauerstoffzu gewahren, denn nicht nur ist dieses Element (bei unseren Temperatur- und Druckverhältnissen) ein Gas, sondern es ist ein farbloses, geruch- loses, geschmackloses Gas. Durch die blossen Sinne konnte dieser Körper also nicht gefunden werden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahr- hunderts lebte nun in England einer jener dem Gilbert (S. 759) ähn- lichen, echten Entdecker, Robert Boyle, der durch eine Schrift, betitelt Chemista scepticus, dem aristotelischen Vernünfteln und dem alche- mistischen Firlefanz auf dem Gebiete der Chemie den Garaus machte und zugleich ein doppeltes Beispiel gab: das nämlich der strengen Beob- achtung und das der Gliederung und Sichtung des schon stark an- gewachsenen Beobachtungsstoffes durch die Einführung einer schöpfe- rischen Idee. Als Angebinde schenkte Boyle der jetzt erst entstehenden echten Chemie die neue Vorstellung der Elemente, eine weit kühnere als die alte empedokleische, mehr aus dem Geist des grossen Demokrit geborene. Diese Idee stützte sich damals auf keine Beobachtung; sie entsprang der Phantasie; wurde aber nunmehr die Quelle zahlloser Entdeckungen, die noch heute ihren Gang lange nicht beendet haben: man sieht, welche Wege unsere Wissenschaft stets wandelt.1) Nun aber kommt erst das Beispiel, das ich im Sinne habe. Boyle's Idee hatte eine schnelle Vermehrung des Wissens bewirkt, Entdeckung hatte sich an Entdeckung gereiht, doch je mehr sich die Thatsachen häuften, um so konfuser wurde das Gesamtergebnis; wer wissen will, wie un- möglich Wissenschaft ist ohne Theorie, vertiefe sich in den Zustand der Chemie zu Beginn des 18. Jahrhunderts; er wird ein chinesisches Chaos finden. Wenn nun, wie Liebig meint, Wissenschaft es ohne Weiteres vermag, Thatsachen zu "erklären", wenn der phantasielose "Verstand" hierzu ausreicht, warum geschah das damals nicht? Waren Boyle selber und Hooke und Becher und die vielen anderen tüchtigen Thatsachensammler jener Zeit unverständige Leute? Gewiss nicht; doch Verstand und Beobachtung reichen allein nicht aus, und "erklären" Wollen ist ein Wahn; was wir Verständnis nennen, setzt immer einen schöpferischen Beitrag des Menschen voraus. Es kam also jetzt darauf an, aus Boyle's genialer Idee die theoretischen Konsequenzen zu ziehen, und das geschah durch einen fränkischen Arzt, einen Mann "von 1) Es verdient Erwähnung, dass Boyle's ausserordentliche Beanlagung zu
phantastischen Erfindungen in theologischen Schriften aus seiner Feder Ausdruck fand und auch sonst im täglichen Leben auffiel! Die Entstehung einer neuen Welt. Stickstoff eingeht, ist es dem Unwissenden unmöglich, den Sauerstoffzu gewahren, denn nicht nur ist dieses Element (bei unseren Temperatur- und Druckverhältnissen) ein Gas, sondern es ist ein farbloses, geruch- loses, geschmackloses Gas. Durch die blossen Sinne konnte dieser Körper also nicht gefunden werden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahr- hunderts lebte nun in England einer jener dem Gilbert (S. 759) ähn- lichen, echten Entdecker, Robert Boyle, der durch eine Schrift, betitelt Chemista scepticus, dem aristotelischen Vernünfteln und dem alche- mistischen Firlefanz auf dem Gebiete der Chemie den Garaus machte und zugleich ein doppeltes Beispiel gab: das nämlich der strengen Beob- achtung und das der Gliederung und Sichtung des schon stark an- gewachsenen Beobachtungsstoffes durch die Einführung einer schöpfe- rischen Idee. Als Angebinde schenkte Boyle der jetzt erst entstehenden echten Chemie die neue Vorstellung der Elemente, eine weit kühnere als die alte empedokleische, mehr aus dem Geist des grossen Demokrit geborene. Diese Idee stützte sich damals auf keine Beobachtung; sie entsprang der Phantasie; wurde aber nunmehr die Quelle zahlloser Entdeckungen, die noch heute ihren Gang lange nicht beendet haben: man sieht, welche Wege unsere Wissenschaft stets wandelt.1) Nun aber kommt erst das Beispiel, das ich im Sinne habe. Boyle’s Idee hatte eine schnelle Vermehrung des Wissens bewirkt, Entdeckung hatte sich an Entdeckung gereiht, doch je mehr sich die Thatsachen häuften, um so konfuser wurde das Gesamtergebnis; wer wissen will, wie un- möglich Wissenschaft ist ohne Theorie, vertiefe sich in den Zustand der Chemie zu Beginn des 18. Jahrhunderts; er wird ein chinesisches Chaos finden. Wenn nun, wie Liebig meint, Wissenschaft es ohne Weiteres vermag, Thatsachen zu »erklären«, wenn der phantasielose »Verstand« hierzu ausreicht, warum geschah das damals nicht? Waren Boyle selber und Hooke und Becher und die vielen anderen tüchtigen Thatsachensammler jener Zeit unverständige Leute? Gewiss nicht; doch Verstand und Beobachtung reichen allein nicht aus, und »erklären« Wollen ist ein Wahn; was wir Verständnis nennen, setzt immer einen schöpferischen Beitrag des Menschen voraus. Es kam also jetzt darauf an, aus Boyle’s genialer Idee die theoretischen Konsequenzen zu ziehen, und das geschah durch einen fränkischen Arzt, einen Mann »von 1) Es verdient Erwähnung, dass Boyle’s ausserordentliche Beanlagung zu
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Stickstoff eingeht, ist es dem Unwissenden unmöglich, den Sauerstoff
zu gewahren, denn nicht nur ist dieses Element (bei unseren Temperatur-
und Druckverhältnissen) ein Gas, sondern es ist ein farbloses, geruch-
loses, geschmackloses Gas. Durch die blossen Sinne konnte dieser
Körper also nicht gefunden werden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts lebte nun in England einer jener dem Gilbert (S. 759) ähn-
lichen, echten Entdecker, Robert Boyle, der durch eine Schrift, betitelt
Chemista scepticus, dem aristotelischen Vernünfteln und dem alche-
mistischen Firlefanz auf dem Gebiete der Chemie den Garaus machte
und zugleich ein doppeltes Beispiel gab: das nämlich der strengen Beob-
achtung und das der Gliederung und Sichtung des schon stark an-
gewachsenen Beobachtungsstoffes durch die Einführung einer schöpfe-
rischen Idee. Als Angebinde schenkte Boyle der jetzt erst entstehenden
echten Chemie die neue Vorstellung der Elemente, eine weit kühnere
als die alte empedokleische, mehr aus dem Geist des grossen Demokrit
geborene. Diese Idee stützte sich damals auf keine Beobachtung; sie
entsprang der Phantasie; wurde aber nunmehr die Quelle zahlloser
Entdeckungen, die noch heute ihren Gang lange nicht beendet haben:
man sieht, welche Wege unsere Wissenschaft stets wandelt. 1) Nun
aber kommt erst das Beispiel, das ich im Sinne habe. Boyle’s Idee
hatte eine schnelle Vermehrung des Wissens bewirkt, Entdeckung hatte
sich an Entdeckung gereiht, doch je mehr sich die Thatsachen häuften,
um so konfuser wurde das Gesamtergebnis; wer wissen will, wie un-
möglich Wissenschaft ist ohne Theorie, vertiefe sich in den Zustand
der Chemie zu Beginn des 18. Jahrhunderts; er wird ein chinesisches
Chaos finden. Wenn nun, wie Liebig meint, Wissenschaft es ohne
Weiteres vermag, Thatsachen zu »erklären«, wenn der phantasielose
»Verstand« hierzu ausreicht, warum geschah das damals nicht? Waren
Boyle selber und Hooke und Becher und die vielen anderen tüchtigen
Thatsachensammler jener Zeit unverständige Leute? Gewiss nicht; doch
Verstand und Beobachtung reichen allein nicht aus, und »erklären«
Wollen ist ein Wahn; was wir Verständnis nennen, setzt immer einen
schöpferischen Beitrag des Menschen voraus. Es kam also jetzt darauf
an, aus Boyle’s genialer Idee die theoretischen Konsequenzen zu ziehen,
und das geschah durch einen fränkischen Arzt, einen Mann »von
1) Es verdient Erwähnung, dass Boyle’s ausserordentliche Beanlagung zu
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fand und auch sonst im täglichen Leben auffiel!
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