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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
weiss u. s. w. Alles systematische Charaktere von grundlegender
Bedeutung. Also, aus Beobachtung, gepaart mit Intuition, hatte sich
zuerst eine Ahnung des Richtigen ergeben; der Mensch hatte aber lange
getastet, ohne seine "Ellipse" ziehen zu können; denn der andere Brenn-
punkt, das x fehlte ihm gänzlich. Zuletzt wurde es gefunden (d. h. an-
nähernd gefunden), doch nicht dort, wo die menschliche Vernunft es
gesucht hätte und ebensowenig an einem Orte, wo blosse Intuition je-
mals hingelangt wäre: erst nach endlosem Suchen, nach unermüdlichem
Vergleichen verfiel endlich der Mensch auf die Reihe von anatomischen
Charakteren, die für eine naturgemässe Systematisierung massgebend
sind. Jetzt aber merke man wohl, was des weiteren aus dieser Ent-
deckung erfolgte, denn jetzt erst kommt das, was den Ausschlag giebt
und den unvergleichlichen Wert unserer wissenschaftlichen Methode zeigt.
Jetzt, wo der Mensch sozusagen der Natur auf die Spur gekommen war,
wo er mit ihrer Hilfe eine annähernd richtige Ellipse gezogen hatte, jetzt
entdeckte er Hunderte und Tausende von neuen Thatsachen, die alle
"unwissenschaftliche" Beobachtung und alle Intuition der Welt ihm nie-
mals verraten hätten. Falsche Analogien wurden als solche aufgedeckt;
ungeahnte Zusammenhänge zwischen durchaus heterogen scheinenden
Wesen wurden unwiderleglich dargethan. Jetzt hatte der Mensch eben
wirklich Ordnung geschaffen. Zwar war auch diese Ordnung eine künst-
liche, wenigstens enthielt sie ein künstliches Element, denn Mensch und
Natur sind nicht synonym; hätten wir die rein "natürliche" Ordnung vor
Augen, wir wüssten nicht, was damit anfangen, und Goethe's be-
rühmtes Wort: "natürliches System ist ein widersprechender Aus-
druck" fasst alle hier zu machenden Einwürfe wie in einer Nussschale
zusammen; doch war diese menschlich-künstliche Ordnung, im Gegen-
satz zu der des Aristoteles, eine solche, in welcher der Mensch sich
möglichst klein gemacht und in die Ecke gedrückt hatte, während er
bestrebt gewesen war, die Natur, soweit der menschliche Verstand ihre
Stimme irgend verstehen kann, zu Worte kommen zu lassen. Und
dieses Prinzip ist ein progressives Prinzip; denn auf diesem Wege lernt
man die Sprache der Natur nach und nach immer besser verstehen.
Jede rein logisch-systematische, sowie auch jede philosophisch-dogmatische
Theorie bildet für die Wissenschaft ein unübersteigliches Hindernis,
wogegen jede der Natur möglichst genau abgelauschte und dennoch
nur als Provisorium aufgefasste Theorie Wissen und Wissenschaft fördert.

Dieses eine Beispiel der Pflanzensystematik muss für viele stehen.
Bekanntlich dehnt sich Systematik, als ein notwendiges Organ zur Ge-

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 51

Wissenschaft.
weiss u. s. w. Alles systematische Charaktere von grundlegender
Bedeutung. Also, aus Beobachtung, gepaart mit Intuition, hatte sich
zuerst eine Ahnung des Richtigen ergeben; der Mensch hatte aber lange
getastet, ohne seine »Ellipse« ziehen zu können; denn der andere Brenn-
punkt, das x fehlte ihm gänzlich. Zuletzt wurde es gefunden (d. h. an-
nähernd gefunden), doch nicht dort, wo die menschliche Vernunft es
gesucht hätte und ebensowenig an einem Orte, wo blosse Intuition je-
mals hingelangt wäre: erst nach endlosem Suchen, nach unermüdlichem
Vergleichen verfiel endlich der Mensch auf die Reihe von anatomischen
Charakteren, die für eine naturgemässe Systematisierung massgebend
sind. Jetzt aber merke man wohl, was des weiteren aus dieser Ent-
deckung erfolgte, denn jetzt erst kommt das, was den Ausschlag giebt
und den unvergleichlichen Wert unserer wissenschaftlichen Methode zeigt.
Jetzt, wo der Mensch sozusagen der Natur auf die Spur gekommen war,
wo er mit ihrer Hilfe eine annähernd richtige Ellipse gezogen hatte, jetzt
entdeckte er Hunderte und Tausende von neuen Thatsachen, die alle
»unwissenschaftliche« Beobachtung und alle Intuition der Welt ihm nie-
mals verraten hätten. Falsche Analogien wurden als solche aufgedeckt;
ungeahnte Zusammenhänge zwischen durchaus heterogen scheinenden
Wesen wurden unwiderleglich dargethan. Jetzt hatte der Mensch eben
wirklich Ordnung geschaffen. Zwar war auch diese Ordnung eine künst-
liche, wenigstens enthielt sie ein künstliches Element, denn Mensch und
Natur sind nicht synonym; hätten wir die rein »natürliche« Ordnung vor
Augen, wir wüssten nicht, was damit anfangen, und Goethe’s be-
rühmtes Wort: »natürliches System ist ein widersprechender Aus-
druck« fasst alle hier zu machenden Einwürfe wie in einer Nussschale
zusammen; doch war diese menschlich-künstliche Ordnung, im Gegen-
satz zu der des Aristoteles, eine solche, in welcher der Mensch sich
möglichst klein gemacht und in die Ecke gedrückt hatte, während er
bestrebt gewesen war, die Natur, soweit der menschliche Verstand ihre
Stimme irgend verstehen kann, zu Worte kommen zu lassen. Und
dieses Prinzip ist ein progressives Prinzip; denn auf diesem Wege lernt
man die Sprache der Natur nach und nach immer besser verstehen.
Jede rein logisch-systematische, sowie auch jede philosophisch-dogmatische
Theorie bildet für die Wissenschaft ein unübersteigliches Hindernis,
wogegen jede der Natur möglichst genau abgelauschte und dennoch
nur als Provisorium aufgefasste Theorie Wissen und Wissenschaft fördert.

Dieses eine Beispiel der Pflanzensystematik muss für viele stehen.
Bekanntlich dehnt sich Systematik, als ein notwendiges Organ zur Ge-

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 51
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[793/0272] Wissenschaft. weiss u. s. w. Alles systematische Charaktere von grundlegender Bedeutung. Also, aus Beobachtung, gepaart mit Intuition, hatte sich zuerst eine Ahnung des Richtigen ergeben; der Mensch hatte aber lange getastet, ohne seine »Ellipse« ziehen zu können; denn der andere Brenn- punkt, das x fehlte ihm gänzlich. Zuletzt wurde es gefunden (d. h. an- nähernd gefunden), doch nicht dort, wo die menschliche Vernunft es gesucht hätte und ebensowenig an einem Orte, wo blosse Intuition je- mals hingelangt wäre: erst nach endlosem Suchen, nach unermüdlichem Vergleichen verfiel endlich der Mensch auf die Reihe von anatomischen Charakteren, die für eine naturgemässe Systematisierung massgebend sind. Jetzt aber merke man wohl, was des weiteren aus dieser Ent- deckung erfolgte, denn jetzt erst kommt das, was den Ausschlag giebt und den unvergleichlichen Wert unserer wissenschaftlichen Methode zeigt. Jetzt, wo der Mensch sozusagen der Natur auf die Spur gekommen war, wo er mit ihrer Hilfe eine annähernd richtige Ellipse gezogen hatte, jetzt entdeckte er Hunderte und Tausende von neuen Thatsachen, die alle »unwissenschaftliche« Beobachtung und alle Intuition der Welt ihm nie- mals verraten hätten. Falsche Analogien wurden als solche aufgedeckt; ungeahnte Zusammenhänge zwischen durchaus heterogen scheinenden Wesen wurden unwiderleglich dargethan. Jetzt hatte der Mensch eben wirklich Ordnung geschaffen. Zwar war auch diese Ordnung eine künst- liche, wenigstens enthielt sie ein künstliches Element, denn Mensch und Natur sind nicht synonym; hätten wir die rein »natürliche« Ordnung vor Augen, wir wüssten nicht, was damit anfangen, und Goethe’s be- rühmtes Wort: »natürliches System ist ein widersprechender Aus- druck« fasst alle hier zu machenden Einwürfe wie in einer Nussschale zusammen; doch war diese menschlich-künstliche Ordnung, im Gegen- satz zu der des Aristoteles, eine solche, in welcher der Mensch sich möglichst klein gemacht und in die Ecke gedrückt hatte, während er bestrebt gewesen war, die Natur, soweit der menschliche Verstand ihre Stimme irgend verstehen kann, zu Worte kommen zu lassen. Und dieses Prinzip ist ein progressives Prinzip; denn auf diesem Wege lernt man die Sprache der Natur nach und nach immer besser verstehen. Jede rein logisch-systematische, sowie auch jede philosophisch-dogmatische Theorie bildet für die Wissenschaft ein unübersteigliches Hindernis, wogegen jede der Natur möglichst genau abgelauschte und dennoch nur als Provisorium aufgefasste Theorie Wissen und Wissenschaft fördert. Dieses eine Beispiel der Pflanzensystematik muss für viele stehen. Bekanntlich dehnt sich Systematik, als ein notwendiges Organ zur Ge- Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 51

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 793. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/272>, abgerufen am 17.05.2024.