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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
tragen, Übersetzen, Verdolmetschen. Der Hellene wusste das nicht. Ein
Gestalter ohne gleichen, forderte er auch in der Wissenschaft das Lücken-
lose, das allseitig Abgerundete, und dadurch verrammelte er sich selber
das Thor, durch welches man zur Naturerkenntnis eintritt. Wahre Be-
obachtung wird unmöglich, sobald der Mensch mit einseitig mensch-
lichen Forderungen voranschreitet; dafür steht der grosse Aristoteles
als warnendes Beispiel. Nichts wirkt in dieser Beziehung überzeugender
als die Betrachtung der Mathematik; hier sieht man sofort ein, was den
Hellenen gehemmt und was uns gefördert hat. Die Leistungen der
Hellenen in der Geometrie kennt Jeder; eigentümlich ist es nun zu be-
merken, wie der Siegeslauf ihrer mathematischen Forschung bei der
Weiterentwickelung auf ein unübersteigbares Hindernis stösst. Hoefer
macht auf die Natur dieses Hindernisses aufmerksam, indem er hervor-
hebt, dass der griechische Mathematiker niemals ein "Ungefähr" geduldet
hat: für ihn musste der Beweis eines Satzes absolut lückenlos sein, oder
er galt nicht; die Vorstellung, zwei "unendlich" wenig von einander
abweichende Grössen könne man in der Praxis als gleich gross an-
sehen, ist etwas, wogegen sein ganzes Wesen sich empört hätte.1)
Zwar ist Archimedes bei seinen Untersuchungen über die Eigenschaften
des Kreises notwendiger Weise auf nicht genau auszudrückende Ergeb-
nisse gestossen, doch sagt er dann einfach: grösser als soviel und
kleiner als soviel; auch schweigt er sich aus über die irrationalen
Wurzeln, die er hat ziehen müssen, um zu seinem Resultate zu ge-
langen. Dagegen beruht bekanntlich unsere ganze moderne Mathe-
matik mit ihren Schwindel erregenden Leistungen auf Rechnungen
mit "unendlich nahen", d. h. also mit ungefähren Werten. Durch
diese "Infinitesimalrechnung" ist sozusagen der weite undurchdring-
liche Wald irrationaler Zahlen, der uns auf Schritt und Tritt hinderte,
gefällt worden;2) denn die grosse Mehrzahl der Wurzeln und der

1) Histoire des mathematiques, 4e ed., p. 206. Daselbst ein vorzügliches Beispiel
davon, wie der Grieche lieber die nicht unmittelbar überzeugende weil lediglich
logische reductio ad absurdum wählte, als den Weg eines evidenten, streng mathe-
matischen Beweises, in welchem eine "unendliche Annäherung" als Gleichheit
betrachtet wird.
2) Irrationale Zahlen nennt man solche, die nie ganz genau ausgedrückt
werden können, also arithmetisch gesprochen, solche, die einen unendlichen Bruch
enthalten; zu ihnen gehören eine grosse Menge der wichtigsten, in allen Rech-
nungen stets wiederkehrenden Zahlen, z. B. die Quadratwurzeln der meisten Zahlen,
das Verhältnis der Diagonale zur Seite eines Vierecks, des Durchmessers eines Kreises
zu dessen Peripherie, u. s. w. Letztere Zahl, das p der Mathematiker, hat man

Wissenschaft.
tragen, Übersetzen, Verdolmetschen. Der Hellene wusste das nicht. Ein
Gestalter ohne gleichen, forderte er auch in der Wissenschaft das Lücken-
lose, das allseitig Abgerundete, und dadurch verrammelte er sich selber
das Thor, durch welches man zur Naturerkenntnis eintritt. Wahre Be-
obachtung wird unmöglich, sobald der Mensch mit einseitig mensch-
lichen Forderungen voranschreitet; dafür steht der grosse Aristoteles
als warnendes Beispiel. Nichts wirkt in dieser Beziehung überzeugender
als die Betrachtung der Mathematik; hier sieht man sofort ein, was den
Hellenen gehemmt und was uns gefördert hat. Die Leistungen der
Hellenen in der Geometrie kennt Jeder; eigentümlich ist es nun zu be-
merken, wie der Siegeslauf ihrer mathematischen Forschung bei der
Weiterentwickelung auf ein unübersteigbares Hindernis stösst. Hoefer
macht auf die Natur dieses Hindernisses aufmerksam, indem er hervor-
hebt, dass der griechische Mathematiker niemals ein »Ungefähr« geduldet
hat: für ihn musste der Beweis eines Satzes absolut lückenlos sein, oder
er galt nicht; die Vorstellung, zwei »unendlich« wenig von einander
abweichende Grössen könne man in der Praxis als gleich gross an-
sehen, ist etwas, wogegen sein ganzes Wesen sich empört hätte.1)
Zwar ist Archimedes bei seinen Untersuchungen über die Eigenschaften
des Kreises notwendiger Weise auf nicht genau auszudrückende Ergeb-
nisse gestossen, doch sagt er dann einfach: grösser als soviel und
kleiner als soviel; auch schweigt er sich aus über die irrationalen
Wurzeln, die er hat ziehen müssen, um zu seinem Resultate zu ge-
langen. Dagegen beruht bekanntlich unsere ganze moderne Mathe-
matik mit ihren Schwindel erregenden Leistungen auf Rechnungen
mit »unendlich nahen«, d. h. also mit ungefähren Werten. Durch
diese »Infinitesimalrechnung« ist sozusagen der weite undurchdring-
liche Wald irrationaler Zahlen, der uns auf Schritt und Tritt hinderte,
gefällt worden;2) denn die grosse Mehrzahl der Wurzeln und der

1) Histoire des mathématiques, 4e éd., p. 206. Daselbst ein vorzügliches Beispiel
davon, wie der Grieche lieber die nicht unmittelbar überzeugende weil lediglich
logische reductio ad absurdum wählte, als den Weg eines evidenten, streng mathe-
matischen Beweises, in welchem eine »unendliche Annäherung« als Gleichheit
betrachtet wird.
2) Irrationale Zahlen nennt man solche, die nie ganz genau ausgedrückt
werden können, also arithmetisch gesprochen, solche, die einen unendlichen Bruch
enthalten; zu ihnen gehören eine grosse Menge der wichtigsten, in allen Rech-
nungen stets wiederkehrenden Zahlen, z. B. die Quadratwurzeln der meisten Zahlen,
das Verhältnis der Diagonale zur Seite eines Vierecks, des Durchmessers eines Kreises
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[781/0260] Wissenschaft. tragen, Übersetzen, Verdolmetschen. Der Hellene wusste das nicht. Ein Gestalter ohne gleichen, forderte er auch in der Wissenschaft das Lücken- lose, das allseitig Abgerundete, und dadurch verrammelte er sich selber das Thor, durch welches man zur Naturerkenntnis eintritt. Wahre Be- obachtung wird unmöglich, sobald der Mensch mit einseitig mensch- lichen Forderungen voranschreitet; dafür steht der grosse Aristoteles als warnendes Beispiel. Nichts wirkt in dieser Beziehung überzeugender als die Betrachtung der Mathematik; hier sieht man sofort ein, was den Hellenen gehemmt und was uns gefördert hat. Die Leistungen der Hellenen in der Geometrie kennt Jeder; eigentümlich ist es nun zu be- merken, wie der Siegeslauf ihrer mathematischen Forschung bei der Weiterentwickelung auf ein unübersteigbares Hindernis stösst. Hoefer macht auf die Natur dieses Hindernisses aufmerksam, indem er hervor- hebt, dass der griechische Mathematiker niemals ein »Ungefähr« geduldet hat: für ihn musste der Beweis eines Satzes absolut lückenlos sein, oder er galt nicht; die Vorstellung, zwei »unendlich« wenig von einander abweichende Grössen könne man in der Praxis als gleich gross an- sehen, ist etwas, wogegen sein ganzes Wesen sich empört hätte. 1) Zwar ist Archimedes bei seinen Untersuchungen über die Eigenschaften des Kreises notwendiger Weise auf nicht genau auszudrückende Ergeb- nisse gestossen, doch sagt er dann einfach: grösser als soviel und kleiner als soviel; auch schweigt er sich aus über die irrationalen Wurzeln, die er hat ziehen müssen, um zu seinem Resultate zu ge- langen. Dagegen beruht bekanntlich unsere ganze moderne Mathe- matik mit ihren Schwindel erregenden Leistungen auf Rechnungen mit »unendlich nahen«, d. h. also mit ungefähren Werten. Durch diese »Infinitesimalrechnung« ist sozusagen der weite undurchdring- liche Wald irrationaler Zahlen, der uns auf Schritt und Tritt hinderte, gefällt worden; 2) denn die grosse Mehrzahl der Wurzeln und der 1) Histoire des mathématiques, 4e éd., p. 206. Daselbst ein vorzügliches Beispiel davon, wie der Grieche lieber die nicht unmittelbar überzeugende weil lediglich logische reductio ad absurdum wählte, als den Weg eines evidenten, streng mathe- matischen Beweises, in welchem eine »unendliche Annäherung« als Gleichheit betrachtet wird. 2) Irrationale Zahlen nennt man solche, die nie ganz genau ausgedrückt werden können, also arithmetisch gesprochen, solche, die einen unendlichen Bruch enthalten; zu ihnen gehören eine grosse Menge der wichtigsten, in allen Rech- nungen stets wiederkehrenden Zahlen, z. B. die Quadratwurzeln der meisten Zahlen, das Verhältnis der Diagonale zur Seite eines Vierecks, des Durchmessers eines Kreises zu dessen Peripherie, u. s. w. Letztere Zahl, das π der Mathematiker, hat man

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 781. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/260>, abgerufen am 25.11.2024.