Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
der Dampfmaschinen sind Beispiele und Beweise. Wie Emerson
treffend sagt: "Das Maschinenwesen unserer Zeit gleicht einem Luft-
ballon, der mit dem Aeronauten davongeflogen ist."1) Wie unmittelbar
andrerseits die Industrie auf Wissen und Wissenschaft zurückwirkt,
erhellt schon zur Genüge aus dem einen Beispiel des Buchdruckes. --
Unter Wirtschaft verstehe ich die gesamte ökonomische Lage eines
Volkes: manchmal, auch bei hoher Kultur, ein sehr einfaches Gebilde,
wie z. B. im ältesten Indien, manchmal zu enormer Verwickeltheit
heranwachsend, wie im alten Babylon und ebenso bei uns Germanen.
Dieses Element bildet den Mittelpunkt aller Civilisation; es wirkt nach
unten und nach oben zu, seinen Charakter allen Äusserungen des ge-
meinschaftlichen Lebens aufprägend. Gewiss tragen Entdeckungen,
Wissenschaft und Industrie mächtig zu der Gestaltung der wirtschaft-
lichen Existenzbedingungen bei, doch schöpfen sie selber die Möglich-
keit des Entstehens und des Bestehens, sowie Förderung und Hemmnis,
aus dem wirtschaftlichen Organismus. Darum kann die Natur, die
Richtung, die Entwickelungstendenz einer bestimmten wirtschaftlichen
Gestaltung so anreizend wie gar nichts anderes auf das gesamte Leben
des Volkes wirken, oder aber auf ewig lähmend. Alle Politik -- die
Herren Pragmatiker mögen sagen, was sie wollen -- ruht im letzten
Grunde auf wirtschaftlichen Verhältnissen, nur ist die Politik der sicht-
bare Körper, die ökonomische Lage das ungesehene Blutgeäst. Dieses
ändert sich nur langsam, doch, hat es sich einmal geändert -- kreist
das Blut dickflüssiger als früher oder treibt es im Gegenteil neue
Anastomosen lebenspendend durch alle Glieder -- so muss die Politik
mit, ob sie will oder nicht. Niemals blüht ein Staatswesen auf durch
die Politik (wie sehr der Schein auch täuschen mag), sondern trotz
der Politik; nie kann Politik allein einem Staatswesen Leben dauernd
sichern -- man betrachte nur das späte Rom und Byzanz. England soll
die politische Nation par excellence sein, doch sehe man genauer zu
und man wird finden, dass dieser ganze politische Apparat der Ein-
dämmung der speziell politischen Gewalt und der Entfesselung der
übrigen unpolitischen lebendigen Kräfte, namentlich der wirtschaftlichen
gilt: schon die Magna Charta bedeutet die Vernichtung der politischen
Justiz zu Gunsten der freien Rechtsprechung. Alle Politik ist ihrem
Wesen nach lediglich Reaktion, und zwar Reaktion gegen wirt-
schaftliche Bewegungen; nur sekundär erwächst sie zu einer formi-

1) English Traits: Wealth.

Die Entstehung einer neuen Welt.
der Dampfmaschinen sind Beispiele und Beweise. Wie Emerson
treffend sagt: »Das Maschinenwesen unserer Zeit gleicht einem Luft-
ballon, der mit dem Aëronauten davongeflogen ist.«1) Wie unmittelbar
andrerseits die Industrie auf Wissen und Wissenschaft zurückwirkt,
erhellt schon zur Genüge aus dem einen Beispiel des Buchdruckes. —
Unter Wirtschaft verstehe ich die gesamte ökonomische Lage eines
Volkes: manchmal, auch bei hoher Kultur, ein sehr einfaches Gebilde,
wie z. B. im ältesten Indien, manchmal zu enormer Verwickeltheit
heranwachsend, wie im alten Babylon und ebenso bei uns Germanen.
Dieses Element bildet den Mittelpunkt aller Civilisation; es wirkt nach
unten und nach oben zu, seinen Charakter allen Äusserungen des ge-
meinschaftlichen Lebens aufprägend. Gewiss tragen Entdeckungen,
Wissenschaft und Industrie mächtig zu der Gestaltung der wirtschaft-
lichen Existenzbedingungen bei, doch schöpfen sie selber die Möglich-
keit des Entstehens und des Bestehens, sowie Förderung und Hemmnis,
aus dem wirtschaftlichen Organismus. Darum kann die Natur, die
Richtung, die Entwickelungstendenz einer bestimmten wirtschaftlichen
Gestaltung so anreizend wie gar nichts anderes auf das gesamte Leben
des Volkes wirken, oder aber auf ewig lähmend. Alle Politik — die
Herren Pragmatiker mögen sagen, was sie wollen — ruht im letzten
Grunde auf wirtschaftlichen Verhältnissen, nur ist die Politik der sicht-
bare Körper, die ökonomische Lage das ungesehene Blutgeäst. Dieses
ändert sich nur langsam, doch, hat es sich einmal geändert — kreist
das Blut dickflüssiger als früher oder treibt es im Gegenteil neue
Anastomosen lebenspendend durch alle Glieder — so muss die Politik
mit, ob sie will oder nicht. Niemals blüht ein Staatswesen auf durch
die Politik (wie sehr der Schein auch täuschen mag), sondern trotz
der Politik; nie kann Politik allein einem Staatswesen Leben dauernd
sichern — man betrachte nur das späte Rom und Byzanz. England soll
die politische Nation par excellence sein, doch sehe man genauer zu
und man wird finden, dass dieser ganze politische Apparat der Ein-
dämmung der speziell politischen Gewalt und der Entfesselung der
übrigen unpolitischen lebendigen Kräfte, namentlich der wirtschaftlichen
gilt: schon die Magna Charta bedeutet die Vernichtung der politischen
Justiz zu Gunsten der freien Rechtsprechung. Alle Politik ist ihrem
Wesen nach lediglich Reaktion, und zwar Reaktion gegen wirt-
schaftliche Bewegungen; nur sekundär erwächst sie zu einer formi-

1) English Traits: Wealth.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0213" n="734"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
der Dampfmaschinen sind Beispiele und Beweise. Wie Emerson<lb/>
treffend sagt: »Das Maschinenwesen unserer Zeit gleicht einem Luft-<lb/>
ballon, der mit dem Aëronauten davongeflogen ist.«<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">English Traits: Wealth.</hi></note> Wie unmittelbar<lb/>
andrerseits die Industrie auf Wissen und Wissenschaft zurückwirkt,<lb/>
erhellt schon zur Genüge aus dem einen Beispiel des Buchdruckes. &#x2014;<lb/>
Unter <hi rendition="#g">Wirtschaft</hi> verstehe ich die gesamte ökonomische Lage eines<lb/>
Volkes: manchmal, auch bei hoher Kultur, ein sehr einfaches Gebilde,<lb/>
wie z. B. im ältesten Indien, manchmal zu enormer Verwickeltheit<lb/>
heranwachsend, wie im alten Babylon und ebenso bei uns Germanen.<lb/>
Dieses Element bildet den Mittelpunkt aller Civilisation; es wirkt nach<lb/>
unten und nach oben zu, seinen Charakter allen Äusserungen des ge-<lb/>
meinschaftlichen Lebens aufprägend. Gewiss tragen Entdeckungen,<lb/>
Wissenschaft und Industrie mächtig zu der Gestaltung der wirtschaft-<lb/>
lichen Existenzbedingungen bei, doch schöpfen sie selber die Möglich-<lb/>
keit des Entstehens und des Bestehens, sowie Förderung und Hemmnis,<lb/>
aus dem wirtschaftlichen Organismus. Darum kann die Natur, die<lb/>
Richtung, die Entwickelungstendenz einer bestimmten wirtschaftlichen<lb/>
Gestaltung so anreizend wie gar nichts anderes auf das gesamte Leben<lb/>
des Volkes wirken, oder aber auf ewig lähmend. Alle Politik &#x2014; die<lb/>
Herren Pragmatiker mögen sagen, was sie wollen &#x2014; ruht im letzten<lb/>
Grunde auf wirtschaftlichen Verhältnissen, nur ist die Politik der sicht-<lb/>
bare Körper, die ökonomische Lage das ungesehene Blutgeäst. Dieses<lb/>
ändert sich nur langsam, doch, hat es sich einmal geändert &#x2014; kreist<lb/>
das Blut dickflüssiger als früher oder treibt es im Gegenteil neue<lb/>
Anastomosen lebenspendend durch alle Glieder &#x2014; so muss die Politik<lb/>
mit, ob sie will oder nicht. Niemals blüht ein Staatswesen auf <hi rendition="#g">durch</hi><lb/>
die Politik (wie sehr der Schein auch täuschen mag), sondern <hi rendition="#g">trotz</hi><lb/>
der Politik; nie kann Politik allein einem Staatswesen Leben dauernd<lb/>
sichern &#x2014; man betrachte nur das späte Rom und Byzanz. England soll<lb/>
die politische Nation <hi rendition="#i">par excellence</hi> sein, doch sehe man genauer zu<lb/>
und man wird finden, dass dieser ganze politische Apparat der Ein-<lb/>
dämmung der speziell politischen Gewalt und der Entfesselung der<lb/>
übrigen unpolitischen lebendigen Kräfte, namentlich der wirtschaftlichen<lb/>
gilt: schon die <hi rendition="#i">Magna Charta</hi> bedeutet die Vernichtung der politischen<lb/>
Justiz zu Gunsten der freien Rechtsprechung. Alle Politik ist ihrem<lb/>
Wesen nach lediglich Reaktion, und zwar Reaktion gegen wirt-<lb/>
schaftliche Bewegungen; nur sekundär erwächst sie zu einer formi-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[734/0213] Die Entstehung einer neuen Welt. der Dampfmaschinen sind Beispiele und Beweise. Wie Emerson treffend sagt: »Das Maschinenwesen unserer Zeit gleicht einem Luft- ballon, der mit dem Aëronauten davongeflogen ist.« 1) Wie unmittelbar andrerseits die Industrie auf Wissen und Wissenschaft zurückwirkt, erhellt schon zur Genüge aus dem einen Beispiel des Buchdruckes. — Unter Wirtschaft verstehe ich die gesamte ökonomische Lage eines Volkes: manchmal, auch bei hoher Kultur, ein sehr einfaches Gebilde, wie z. B. im ältesten Indien, manchmal zu enormer Verwickeltheit heranwachsend, wie im alten Babylon und ebenso bei uns Germanen. Dieses Element bildet den Mittelpunkt aller Civilisation; es wirkt nach unten und nach oben zu, seinen Charakter allen Äusserungen des ge- meinschaftlichen Lebens aufprägend. Gewiss tragen Entdeckungen, Wissenschaft und Industrie mächtig zu der Gestaltung der wirtschaft- lichen Existenzbedingungen bei, doch schöpfen sie selber die Möglich- keit des Entstehens und des Bestehens, sowie Förderung und Hemmnis, aus dem wirtschaftlichen Organismus. Darum kann die Natur, die Richtung, die Entwickelungstendenz einer bestimmten wirtschaftlichen Gestaltung so anreizend wie gar nichts anderes auf das gesamte Leben des Volkes wirken, oder aber auf ewig lähmend. Alle Politik — die Herren Pragmatiker mögen sagen, was sie wollen — ruht im letzten Grunde auf wirtschaftlichen Verhältnissen, nur ist die Politik der sicht- bare Körper, die ökonomische Lage das ungesehene Blutgeäst. Dieses ändert sich nur langsam, doch, hat es sich einmal geändert — kreist das Blut dickflüssiger als früher oder treibt es im Gegenteil neue Anastomosen lebenspendend durch alle Glieder — so muss die Politik mit, ob sie will oder nicht. Niemals blüht ein Staatswesen auf durch die Politik (wie sehr der Schein auch täuschen mag), sondern trotz der Politik; nie kann Politik allein einem Staatswesen Leben dauernd sichern — man betrachte nur das späte Rom und Byzanz. England soll die politische Nation par excellence sein, doch sehe man genauer zu und man wird finden, dass dieser ganze politische Apparat der Ein- dämmung der speziell politischen Gewalt und der Entfesselung der übrigen unpolitischen lebendigen Kräfte, namentlich der wirtschaftlichen gilt: schon die Magna Charta bedeutet die Vernichtung der politischen Justiz zu Gunsten der freien Rechtsprechung. Alle Politik ist ihrem Wesen nach lediglich Reaktion, und zwar Reaktion gegen wirt- schaftliche Bewegungen; nur sekundär erwächst sie zu einer formi- 1) English Traits: Wealth.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/213
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 734. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/213>, abgerufen am 22.11.2024.