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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Einleitendes.
in demselben Augenblick, wo die Engländer ihrem König die Magna
Charta
abtrotzten), welches die unausbleibliche Spaltung von Europa
in mehrere feindliche Lager herbeiführte. Zu Grunde liegen hier
Rassenunterschiede. Doch ist Rasse, wie wir gesehen haben, ein
plastisch bewegliches, vielfach zusammengesetztes Wesen, und fast
überall ringen in ihr verschiedene Elemente um die Vorherrschaft;
nicht selten hat der Sieg eines religiösen Dogmas die Präponderanz
des einen Elements über das andere entschieden und damit zugleich
die ganze fernere Entwickelung der Rasse oder Nation bestimmt.
Das betreffende Dogma selbst hatte vielleicht auch der grösste Doktor
nicht verstanden, denn es handelte sich um ein Unaussprechbares,
Unausdenkbares; doch bei solchen Dingen ist die Richtung das
Entscheidende, mit anderen Worten die Orientierung des Willens
(wenn ich mich so ausdrücken darf). Und so begreift man leicht,
wie Staat und Religion auf einander wirken können und müssen, und
zwar nicht allein in dem Sinne eines Wettstreites zwischen universeller
Kirche und nationaler Regierung, sondern auch dadurch, dass der
Staat die Mittel besitzt (und bis vor Kurzem fast unbeschränkt besass),
eine in der Religion sich äussernde, moralisch-intellektuelle Richtung
auszurotten und damit zugleich sein Volk in ein anderes umzuwandeln,
oder umgekehrt dadurch, dass der Staat selber, durch eine bis zum end-
gültigen Siege durchgedrungene religiöse Anschauung auf völlig neue
Bahnen gelenkt wird. Ein unbefangener Blick auf die heutige Karte
Europa's wird nicht bezweifeln lassen, dass die Religion ein mächtiger
Faktor in der Entwickelung der Staaten und somit auch aller Kultur
war und ist.1) Nicht allein zeigt sie Charakter, sie zeugt ihn auch.

Ich glaube also meinem Zweck gemäss zu handeln, wenn ich
aus dieser Epoche des Kampfes als die zwei Hauptzielpunkte alles
Kämpfens die Religion und den Staat herausgreife: den Kampf in
der Religion und um die Religion, den Kampf im Staate und um
den Staat. Nur muss ich mich gegen die Auffassung verwahren, als
postulierte ich zwei völlig getrennte Wesenheiten, die nur durch die
Fähigkeit, auf einander zu wirken, zu einem Ganzen verbunden würden;
vielmehr bin ich der Ansicht, dass die gerade heute so beliebte
völlige Absonderung des religiösen Lebens vom staatlichen auf einem
bedenklichen Urteilsfehler beruht. In Wahrheit ist sie unmöglich.

1) Besonders schön von Schiller am Anfang des I. Teiles seines Dreissig-
jährigen Krieges
ausgeführt.

Einleitendes.
in demselben Augenblick, wo die Engländer ihrem König die Magna
Charta
abtrotzten), welches die unausbleibliche Spaltung von Europa
in mehrere feindliche Lager herbeiführte. Zu Grunde liegen hier
Rassenunterschiede. Doch ist Rasse, wie wir gesehen haben, ein
plastisch bewegliches, vielfach zusammengesetztes Wesen, und fast
überall ringen in ihr verschiedene Elemente um die Vorherrschaft;
nicht selten hat der Sieg eines religiösen Dogmas die Präponderanz
des einen Elements über das andere entschieden und damit zugleich
die ganze fernere Entwickelung der Rasse oder Nation bestimmt.
Das betreffende Dogma selbst hatte vielleicht auch der grösste Doktor
nicht verstanden, denn es handelte sich um ein Unaussprechbares,
Unausdenkbares; doch bei solchen Dingen ist die Richtung das
Entscheidende, mit anderen Worten die Orientierung des Willens
(wenn ich mich so ausdrücken darf). Und so begreift man leicht,
wie Staat und Religion auf einander wirken können und müssen, und
zwar nicht allein in dem Sinne eines Wettstreites zwischen universeller
Kirche und nationaler Regierung, sondern auch dadurch, dass der
Staat die Mittel besitzt (und bis vor Kurzem fast unbeschränkt besass),
eine in der Religion sich äussernde, moralisch-intellektuelle Richtung
auszurotten und damit zugleich sein Volk in ein anderes umzuwandeln,
oder umgekehrt dadurch, dass der Staat selber, durch eine bis zum end-
gültigen Siege durchgedrungene religiöse Anschauung auf völlig neue
Bahnen gelenkt wird. Ein unbefangener Blick auf die heutige Karte
Europa’s wird nicht bezweifeln lassen, dass die Religion ein mächtiger
Faktor in der Entwickelung der Staaten und somit auch aller Kultur
war und ist.1) Nicht allein zeigt sie Charakter, sie zeugt ihn auch.

Ich glaube also meinem Zweck gemäss zu handeln, wenn ich
aus dieser Epoche des Kampfes als die zwei Hauptzielpunkte alles
Kämpfens die Religion und den Staat herausgreife: den Kampf in
der Religion und um die Religion, den Kampf im Staate und um
den Staat. Nur muss ich mich gegen die Auffassung verwahren, als
postulierte ich zwei völlig getrennte Wesenheiten, die nur durch die
Fähigkeit, auf einander zu wirken, zu einem Ganzen verbunden würden;
vielmehr bin ich der Ansicht, dass die gerade heute so beliebte
völlige Absonderung des religiösen Lebens vom staatlichen auf einem
bedenklichen Urteilsfehler beruht. In Wahrheit ist sie unmöglich.

1) Besonders schön von Schiller am Anfang des I. Teiles seines Dreissig-
jährigen Krieges
ausgeführt.
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[541/0020] Einleitendes. in demselben Augenblick, wo die Engländer ihrem König die Magna Charta abtrotzten), welches die unausbleibliche Spaltung von Europa in mehrere feindliche Lager herbeiführte. Zu Grunde liegen hier Rassenunterschiede. Doch ist Rasse, wie wir gesehen haben, ein plastisch bewegliches, vielfach zusammengesetztes Wesen, und fast überall ringen in ihr verschiedene Elemente um die Vorherrschaft; nicht selten hat der Sieg eines religiösen Dogmas die Präponderanz des einen Elements über das andere entschieden und damit zugleich die ganze fernere Entwickelung der Rasse oder Nation bestimmt. Das betreffende Dogma selbst hatte vielleicht auch der grösste Doktor nicht verstanden, denn es handelte sich um ein Unaussprechbares, Unausdenkbares; doch bei solchen Dingen ist die Richtung das Entscheidende, mit anderen Worten die Orientierung des Willens (wenn ich mich so ausdrücken darf). Und so begreift man leicht, wie Staat und Religion auf einander wirken können und müssen, und zwar nicht allein in dem Sinne eines Wettstreites zwischen universeller Kirche und nationaler Regierung, sondern auch dadurch, dass der Staat die Mittel besitzt (und bis vor Kurzem fast unbeschränkt besass), eine in der Religion sich äussernde, moralisch-intellektuelle Richtung auszurotten und damit zugleich sein Volk in ein anderes umzuwandeln, oder umgekehrt dadurch, dass der Staat selber, durch eine bis zum end- gültigen Siege durchgedrungene religiöse Anschauung auf völlig neue Bahnen gelenkt wird. Ein unbefangener Blick auf die heutige Karte Europa’s wird nicht bezweifeln lassen, dass die Religion ein mächtiger Faktor in der Entwickelung der Staaten und somit auch aller Kultur war und ist. 1) Nicht allein zeigt sie Charakter, sie zeugt ihn auch. Ich glaube also meinem Zweck gemäss zu handeln, wenn ich aus dieser Epoche des Kampfes als die zwei Hauptzielpunkte alles Kämpfens die Religion und den Staat herausgreife: den Kampf in der Religion und um die Religion, den Kampf im Staate und um den Staat. Nur muss ich mich gegen die Auffassung verwahren, als postulierte ich zwei völlig getrennte Wesenheiten, die nur durch die Fähigkeit, auf einander zu wirken, zu einem Ganzen verbunden würden; vielmehr bin ich der Ansicht, dass die gerade heute so beliebte völlige Absonderung des religiösen Lebens vom staatlichen auf einem bedenklichen Urteilsfehler beruht. In Wahrheit ist sie unmöglich. 1) Besonders schön von Schiller am Anfang des I. Teiles seines Dreissig- jährigen Krieges ausgeführt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 541. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/20>, abgerufen am 23.11.2024.