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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
bahn? Sehen wir, dass in Indien auf jene hohe Kultur eine Weiter-
entwickelung stattgefunden habe? Und wie steht es mit den Chinesen,
denen wir vielleicht eben so viele Anregungen verdanken wie die
Hellenen den Ägyptern? Die Wahrheit ist, dass, sobald wir, unserem
systematisierenden Hange folgend, organisch verknüpfen wollen, wir
das Individuelle vertilgen, damit aber auch das Einzige, was wir
konkret besitzen. Selbst Herder, von dem ich gerade bei dieser Dis-
kussion so weit abweiche, schreibt: "In Indien, Ägypten, Sina geschah,
was sonst nie und nirgends auf Erden geschehen wird, ebenso in
Kanaan, Griechenland, Rom, Karthago".1)

Die angebliche
"Renaissance".

Ich nannte z. B. vorhin die Hellenen und die Römer diejenigen,
denen wir sicherlich die meisten Anregungen, wenn nicht für unsere
Civilisation, so doch für unsere Kultur verdanken; wir aber sind weder
Hellenen noch Römer dadurch geworden. Vielleicht hat man nie einen
verderblicheren Begriff in die Geschichte eingeführt, als den der Renais-
sance.
Denn hiermit verband man den Wahn einer Wiedergeburt
lateinischer und griechischer Kultur, ein Gedanke würdig der Mestizen-
seelen des entarteten Südeuropa, denen "Kultur" etwas war, was der
Mensch sich äusserlich aneignen kann. Zu einer Wiedergeburt hellenischer
Kultur würde nichts weniger gehören als die Wiedergeburt der Hellenen;
alles Andere ist Mummenschanz. Nicht allein der Begriff der Renaissance
war verderblich, sondern zum sehr grossen Teil auch die Thaten, die
aus dieser Auffassung entsprangen. Denn anstatt bloss Anregung zu
empfangen, empfingen wir nunmehr Gesetze, Gesetze, welche unserer
Eigenart Fesseln anlegten, welche sie auf Schritt und Tritt hemmten und
den kostbarsten Besitz, die Originalität -- d. h. die Wahrhaftigkeit der
eigenen Natur -- uns zu schmälern bestrebt waren. Auf dem Gebiet
des öffentlichen Lebens ward das als klassisches Dogma verkündete
römische Recht die Quelle unerhörter Gewaltthätigkeit und Freiheits-
entziehung; nicht etwa als sei dieses Recht nicht auch heute noch
ein Muster juristischer Technik, die ewige hohe Schule der Juris-
prudenz (siehe S. 166 fg); dass es aber uns Germanen als ein Dogma
aufgezwungen wurde, war offenbar ein schweres Unglück für unsere
geschichtliche Entwickelung; denn nicht allein passte es nicht für
unsere Verhältnisse, sondern es war ein Totes, Missverstandenes, ein
Organismus dessen frühere lebendige Bedeutung erst nach Jahrhunderten,
erst in unseren Tagen, durch die genaueste Erforschung römischer

1) Ideen, III, 12, 6.

Die Entstehung einer neuen Welt.
bahn? Sehen wir, dass in Indien auf jene hohe Kultur eine Weiter-
entwickelung stattgefunden habe? Und wie steht es mit den Chinesen,
denen wir vielleicht eben so viele Anregungen verdanken wie die
Hellenen den Ägyptern? Die Wahrheit ist, dass, sobald wir, unserem
systematisierenden Hange folgend, organisch verknüpfen wollen, wir
das Individuelle vertilgen, damit aber auch das Einzige, was wir
konkret besitzen. Selbst Herder, von dem ich gerade bei dieser Dis-
kussion so weit abweiche, schreibt: »In Indien, Ägypten, Sina geschah,
was sonst nie und nirgends auf Erden geschehen wird, ebenso in
Kanaan, Griechenland, Rom, Karthago«.1)

Die angebliche
»Renaissance«.

Ich nannte z. B. vorhin die Hellenen und die Römer diejenigen,
denen wir sicherlich die meisten Anregungen, wenn nicht für unsere
Civilisation, so doch für unsere Kultur verdanken; wir aber sind weder
Hellenen noch Römer dadurch geworden. Vielleicht hat man nie einen
verderblicheren Begriff in die Geschichte eingeführt, als den der Renais-
sance.
Denn hiermit verband man den Wahn einer Wiedergeburt
lateinischer und griechischer Kultur, ein Gedanke würdig der Mestizen-
seelen des entarteten Südeuropa, denen »Kultur« etwas war, was der
Mensch sich äusserlich aneignen kann. Zu einer Wiedergeburt hellenischer
Kultur würde nichts weniger gehören als die Wiedergeburt der Hellenen;
alles Andere ist Mummenschanz. Nicht allein der Begriff der Renaissance
war verderblich, sondern zum sehr grossen Teil auch die Thaten, die
aus dieser Auffassung entsprangen. Denn anstatt bloss Anregung zu
empfangen, empfingen wir nunmehr Gesetze, Gesetze, welche unserer
Eigenart Fesseln anlegten, welche sie auf Schritt und Tritt hemmten und
den kostbarsten Besitz, die Originalität — d. h. die Wahrhaftigkeit der
eigenen Natur — uns zu schmälern bestrebt waren. Auf dem Gebiet
des öffentlichen Lebens ward das als klassisches Dogma verkündete
römische Recht die Quelle unerhörter Gewaltthätigkeit und Freiheits-
entziehung; nicht etwa als sei dieses Recht nicht auch heute noch
ein Muster juristischer Technik, die ewige hohe Schule der Juris-
prudenz (siehe S. 166 fg); dass es aber uns Germanen als ein Dogma
aufgezwungen wurde, war offenbar ein schweres Unglück für unsere
geschichtliche Entwickelung; denn nicht allein passte es nicht für
unsere Verhältnisse, sondern es war ein Totes, Missverstandenes, ein
Organismus dessen frühere lebendige Bedeutung erst nach Jahrhunderten,
erst in unseren Tagen, durch die genaueste Erforschung römischer

1) Ideen, III, 12, 6.
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[712/0191] Die Entstehung einer neuen Welt. bahn? Sehen wir, dass in Indien auf jene hohe Kultur eine Weiter- entwickelung stattgefunden habe? Und wie steht es mit den Chinesen, denen wir vielleicht eben so viele Anregungen verdanken wie die Hellenen den Ägyptern? Die Wahrheit ist, dass, sobald wir, unserem systematisierenden Hange folgend, organisch verknüpfen wollen, wir das Individuelle vertilgen, damit aber auch das Einzige, was wir konkret besitzen. Selbst Herder, von dem ich gerade bei dieser Dis- kussion so weit abweiche, schreibt: »In Indien, Ägypten, Sina geschah, was sonst nie und nirgends auf Erden geschehen wird, ebenso in Kanaan, Griechenland, Rom, Karthago«. 1) Ich nannte z. B. vorhin die Hellenen und die Römer diejenigen, denen wir sicherlich die meisten Anregungen, wenn nicht für unsere Civilisation, so doch für unsere Kultur verdanken; wir aber sind weder Hellenen noch Römer dadurch geworden. Vielleicht hat man nie einen verderblicheren Begriff in die Geschichte eingeführt, als den der Renais- sance. Denn hiermit verband man den Wahn einer Wiedergeburt lateinischer und griechischer Kultur, ein Gedanke würdig der Mestizen- seelen des entarteten Südeuropa, denen »Kultur« etwas war, was der Mensch sich äusserlich aneignen kann. Zu einer Wiedergeburt hellenischer Kultur würde nichts weniger gehören als die Wiedergeburt der Hellenen; alles Andere ist Mummenschanz. Nicht allein der Begriff der Renaissance war verderblich, sondern zum sehr grossen Teil auch die Thaten, die aus dieser Auffassung entsprangen. Denn anstatt bloss Anregung zu empfangen, empfingen wir nunmehr Gesetze, Gesetze, welche unserer Eigenart Fesseln anlegten, welche sie auf Schritt und Tritt hemmten und den kostbarsten Besitz, die Originalität — d. h. die Wahrhaftigkeit der eigenen Natur — uns zu schmälern bestrebt waren. Auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens ward das als klassisches Dogma verkündete römische Recht die Quelle unerhörter Gewaltthätigkeit und Freiheits- entziehung; nicht etwa als sei dieses Recht nicht auch heute noch ein Muster juristischer Technik, die ewige hohe Schule der Juris- prudenz (siehe S. 166 fg); dass es aber uns Germanen als ein Dogma aufgezwungen wurde, war offenbar ein schweres Unglück für unsere geschichtliche Entwickelung; denn nicht allein passte es nicht für unsere Verhältnisse, sondern es war ein Totes, Missverstandenes, ein Organismus dessen frühere lebendige Bedeutung erst nach Jahrhunderten, erst in unseren Tagen, durch die genaueste Erforschung römischer 1) Ideen, III, 12, 6.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 712. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/191>, abgerufen am 22.11.2024.