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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
lösbares Mysterium erfasst haben. Wir fragen diese Alleswisser, wie es
kommt, dass die Römer, nahe Verwandte der Hellenen (wie Philologie,
Geschichte, Anthropologie uns vermuten lassen), doch fast in jeder
einzelnen Begabung ihr genaues Gegenteil waren? Sie antworten mit
der geographischen Lage. Die geographische Lage ist aber gar nicht
einmal sehr verschieden, und für Anregungen, den phönizischen gleich-
wertig, gab die Nähe von Karthago, auch die Nähe von Etrurien
genügend Gelegenheit. Und wenn die geographische Lage das Be-
stimmende ist, warum schwand denn das alte Rom mit den alten Römern
so gänzlich und unwiederbringlich dahin? Der unvergleichlichste
Tausendkünstler auf diesem Felde war Henry Thomas Buckle, der
die geistigen Eigenschaften der arischen Inder durch ihr Reisessen
"erklärt".1) Wahrhaftig, eine trostreiche Entdeckung für angehende
Philosophen! Dieser Erklärung stehen jedoch zwei Thatsachen entgegen.
Erstens ist der Reis "das Hauptnahrungsmittel des grössten Teils des
Menschengeschlechts"; zweitens sind gerade die Chinesen die grössten
Reisesser der Welt, die bis zu anderthalb Kilo davon am Tage ver-

1) History of Civilization in England, vol. I, ch. 2. Die höchst ingeniöse
Kette der Schlussfolgerungen, mit den unendlich mühsam gesammelten Angaben
über den Ertrag der Reisfelder, über den Stärkegehalt des Reises, über das Ver-
hältnis zwischen Kohlenstoff und Sauerstoff in verschiedenen Nahrungsmitteln u. s. w.,
muss der Leser a. a. O. nachlesen. Das ganze Kartengebäude stürzt zusammen,
sobald der Verfasser die Unumstösslichkeit seines Beweises durch weitere Beispiele
erhärten will und zu diesem Behuf auf Ägypten hinweist: "Da die ägyptische
Civilisation, wie die indische, ihren Ursprung in der Fruchtbarkeit des Bodens und
in der grossen Hitze des Klimas hat, so traten auch hier dieselben Gesetze ins
Spiel, und natürlich mit genau denselben Folgen"; so schreibt Buckle. Nun wäre
es aber schwer, sich zwei verschiedenere Kulturen zu denken als die ägyptische
und die brahmanische; die Ähnlichkeiten, die man allenfalls nachweisen könnte,
sind nur solche ganz äusserliche wie die, welche das Klima mit sich führen kann,
sonst aber weichen diese Völker in allem von einander ab: in politischer und sozialer
Organisation und Geschichte, in den künstlerischen Anlagen, in den geistigen
Gaben und Leistungen, in Religion und Denken, in den Grundlagen des Charakters.
Buckle glaubt allerdings diesen Einwurf, den er vorausgesehen zu haben scheint,
durch die Behauptung widerlegen zu können: die ägyptische Civilisation verhalte
sich zur indischen wie Datteln zu Reis! Woraus sich ein unterhaltendes Gesellschafts-
spiel entwickeln liesse: welche Menschen verhalten sich wie Schweinefleisch zu
Knoblauch? Deutsche und Italiener; welche wie Wachholderbeeren zur Kokosnuss?
Holländer und Malayer u. s. w. Doch wird eine derartige Verirrung bei einem so
hervorragenden und gelehrten Mann eher zu melancholischen Betrachtungen als zu
Scherz anregen.

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lösbares Mysterium erfasst haben. Wir fragen diese Alleswisser, wie es
kommt, dass die Römer, nahe Verwandte der Hellenen (wie Philologie,
Geschichte, Anthropologie uns vermuten lassen), doch fast in jeder
einzelnen Begabung ihr genaues Gegenteil waren? Sie antworten mit
der geographischen Lage. Die geographische Lage ist aber gar nicht
einmal sehr verschieden, und für Anregungen, den phönizischen gleich-
wertig, gab die Nähe von Karthago, auch die Nähe von Etrurien
genügend Gelegenheit. Und wenn die geographische Lage das Be-
stimmende ist, warum schwand denn das alte Rom mit den alten Römern
so gänzlich und unwiederbringlich dahin? Der unvergleichlichste
Tausendkünstler auf diesem Felde war Henry Thomas Buckle, der
die geistigen Eigenschaften der arischen Inder durch ihr Reisessen
»erklärt«.1) Wahrhaftig, eine trostreiche Entdeckung für angehende
Philosophen! Dieser Erklärung stehen jedoch zwei Thatsachen entgegen.
Erstens ist der Reis »das Hauptnahrungsmittel des grössten Teils des
Menschengeschlechts«; zweitens sind gerade die Chinesen die grössten
Reisesser der Welt, die bis zu anderthalb Kilo davon am Tage ver-

1) History of Civilization in England, vol. I, ch. 2. Die höchst ingeniöse
Kette der Schlussfolgerungen, mit den unendlich mühsam gesammelten Angaben
über den Ertrag der Reisfelder, über den Stärkegehalt des Reises, über das Ver-
hältnis zwischen Kohlenstoff und Sauerstoff in verschiedenen Nahrungsmitteln u. s. w.,
muss der Leser a. a. O. nachlesen. Das ganze Kartengebäude stürzt zusammen,
sobald der Verfasser die Unumstösslichkeit seines Beweises durch weitere Beispiele
erhärten will und zu diesem Behuf auf Ägypten hinweist: »Da die ägyptische
Civilisation, wie die indische, ihren Ursprung in der Fruchtbarkeit des Bodens und
in der grossen Hitze des Klimas hat, so traten auch hier dieselben Gesetze ins
Spiel, und natürlich mit genau denselben Folgen«; so schreibt Buckle. Nun wäre
es aber schwer, sich zwei verschiedenere Kulturen zu denken als die ägyptische
und die brahmanische; die Ähnlichkeiten, die man allenfalls nachweisen könnte,
sind nur solche ganz äusserliche wie die, welche das Klima mit sich führen kann,
sonst aber weichen diese Völker in allem von einander ab: in politischer und sozialer
Organisation und Geschichte, in den künstlerischen Anlagen, in den geistigen
Gaben und Leistungen, in Religion und Denken, in den Grundlagen des Charakters.
Buckle glaubt allerdings diesen Einwurf, den er vorausgesehen zu haben scheint,
durch die Behauptung widerlegen zu können: die ägyptische Civilisation verhalte
sich zur indischen wie Datteln zu Reis! Woraus sich ein unterhaltendes Gesellschafts-
spiel entwickeln liesse: welche Menschen verhalten sich wie Schweinefleisch zu
Knoblauch? Deutsche und Italiener; welche wie Wachholderbeeren zur Kokosnuss?
Holländer und Malayer u. s. w. Doch wird eine derartige Verirrung bei einem so
hervorragenden und gelehrten Mann eher zu melancholischen Betrachtungen als zu
Scherz anregen.
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[706/0185] Die Entstehung einer neuen Welt. lösbares Mysterium erfasst haben. Wir fragen diese Alleswisser, wie es kommt, dass die Römer, nahe Verwandte der Hellenen (wie Philologie, Geschichte, Anthropologie uns vermuten lassen), doch fast in jeder einzelnen Begabung ihr genaues Gegenteil waren? Sie antworten mit der geographischen Lage. Die geographische Lage ist aber gar nicht einmal sehr verschieden, und für Anregungen, den phönizischen gleich- wertig, gab die Nähe von Karthago, auch die Nähe von Etrurien genügend Gelegenheit. Und wenn die geographische Lage das Be- stimmende ist, warum schwand denn das alte Rom mit den alten Römern so gänzlich und unwiederbringlich dahin? Der unvergleichlichste Tausendkünstler auf diesem Felde war Henry Thomas Buckle, der die geistigen Eigenschaften der arischen Inder durch ihr Reisessen »erklärt«. 1) Wahrhaftig, eine trostreiche Entdeckung für angehende Philosophen! Dieser Erklärung stehen jedoch zwei Thatsachen entgegen. Erstens ist der Reis »das Hauptnahrungsmittel des grössten Teils des Menschengeschlechts«; zweitens sind gerade die Chinesen die grössten Reisesser der Welt, die bis zu anderthalb Kilo davon am Tage ver- 1) History of Civilization in England, vol. I, ch. 2. Die höchst ingeniöse Kette der Schlussfolgerungen, mit den unendlich mühsam gesammelten Angaben über den Ertrag der Reisfelder, über den Stärkegehalt des Reises, über das Ver- hältnis zwischen Kohlenstoff und Sauerstoff in verschiedenen Nahrungsmitteln u. s. w., muss der Leser a. a. O. nachlesen. Das ganze Kartengebäude stürzt zusammen, sobald der Verfasser die Unumstösslichkeit seines Beweises durch weitere Beispiele erhärten will und zu diesem Behuf auf Ägypten hinweist: »Da die ägyptische Civilisation, wie die indische, ihren Ursprung in der Fruchtbarkeit des Bodens und in der grossen Hitze des Klimas hat, so traten auch hier dieselben Gesetze ins Spiel, und natürlich mit genau denselben Folgen«; so schreibt Buckle. Nun wäre es aber schwer, sich zwei verschiedenere Kulturen zu denken als die ägyptische und die brahmanische; die Ähnlichkeiten, die man allenfalls nachweisen könnte, sind nur solche ganz äusserliche wie die, welche das Klima mit sich führen kann, sonst aber weichen diese Völker in allem von einander ab: in politischer und sozialer Organisation und Geschichte, in den künstlerischen Anlagen, in den geistigen Gaben und Leistungen, in Religion und Denken, in den Grundlagen des Charakters. Buckle glaubt allerdings diesen Einwurf, den er vorausgesehen zu haben scheint, durch die Behauptung widerlegen zu können: die ägyptische Civilisation verhalte sich zur indischen wie Datteln zu Reis! Woraus sich ein unterhaltendes Gesellschafts- spiel entwickeln liesse: welche Menschen verhalten sich wie Schweinefleisch zu Knoblauch? Deutsche und Italiener; welche wie Wachholderbeeren zur Kokosnuss? Holländer und Malayer u. s. w. Doch wird eine derartige Verirrung bei einem so hervorragenden und gelehrten Mann eher zu melancholischen Betrachtungen als zu Scherz anregen.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 706. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/185>, abgerufen am 23.11.2024.