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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Toleranz bereits so weit getrieben, dass sie mehrere Konfessionen zu-
gleich als Staatsreligion anerkennen und ihre Geistlichen besolden.
Schärfer kann der Gegensatz zum römischen Ideal gar nicht gefasst
werden. Bezüglich des Staates ist folglich eine Statistik von "Katholiken"
und "Protestanten" heute bedeutungslos. Mit diesen Worten wird fast
lediglich der Glaube an bestimmte unbegreifliche Mysterien ausge-
sprochen, und man darf behaupten, dass der grosse praktische und
politische Gedanke Rom's, jenes durch die Religion verklärte, lückenlos
absolutistische Imperium, der überwiegenden Mehrzahl der heutigen
römischen Katholiken ebenso unbekannt ist und, wenn er bekannt
würde, bei ihnen eben so wenig Zustimmung fände wie bei den Nicht-
katholiken. Und eine natürliche Folge hiervon -- und, das merke
man wohl, nur hiervon! -- ist, dass auch die religiösen Gegensätze
verschwunden sind.1) Denn sobald das römische Ideal lediglich ein
Credo ist, steht es auf derselben Stufe wie andere christliche Sekten;
eine jede glaubt ja im Besitze der alleinigen und ganzen Wahrheit zu
sein; keine hat meines Wissens die also verstandene Katholizität auf-
gegeben; die verschiedenen protestantischen Lehren sind durchaus nicht
ein prinzipiell Neues, sondern lediglich ein Zurückgreifen auf den
früheren Bestand des christlichen Glaubens, ein Abwerfen der heidnischen
Infiltrationen; nur wenige Sekten erkennen das sogenannte Apostolische
Glaubensbekenntnis nicht an, welches gar nicht einmal aus Rom stammt,
sondern aus Gallien und somit dem Kaisertum, nicht dem Papsttum
seine Einführung verdankt.2) Die römische Kirche ist also, sobald sie
lediglich als religiöses Bekenntnis betrachtet wird, im besten Fall ein
primus inter pares, der heute schon nicht mehr die Hälfte der Christen
die seinen nennt und, wenn keine Umwälzung stattfindet, in hundert
Jahren kaum noch ein Drittel umfassen wird.3) Hat nun auch -- in

1) Verschwunden, meine ich, überall, wo nicht neuerdings durch die Thätig-
keit der einen einzigen Gesellschaft Jesu Hass und Verachtung gegen anders denkende
Mitbürger gesäet worden ist.
2) Siehe Adolf Harnack: Das apostolische Glaubensbekenntnis, 27. Auflage
(namentlich S. 14 fg.: "Das Reich Karl's des Grossen hat Rom sein Symbol
gegeben").
3) Mit Absicht richte ich mich hier nach einer äusserst mässigen Schätzung.
Nach den Berechnungen Ravenstein's hat die Zahl der Protestanten sich im Laufe
unseres Jahrhunderts fast verfünffacht, die der römischen Katholiken sich nicht ver-
doppelt. Der Hauptgrund liegt in der schnelleren Vermehrung der protestantischen
Völker; dazu kommt aber, dass die Uebertritte zum Katholizismus nicht ein Zehntel
der Austritte aus dieser Kirche erreichen, wodurch z. B. bewirkt wird, dass in den

Staat.
Toleranz bereits so weit getrieben, dass sie mehrere Konfessionen zu-
gleich als Staatsreligion anerkennen und ihre Geistlichen besolden.
Schärfer kann der Gegensatz zum römischen Ideal gar nicht gefasst
werden. Bezüglich des Staates ist folglich eine Statistik von »Katholiken«
und »Protestanten« heute bedeutungslos. Mit diesen Worten wird fast
lediglich der Glaube an bestimmte unbegreifliche Mysterien ausge-
sprochen, und man darf behaupten, dass der grosse praktische und
politische Gedanke Rom’s, jenes durch die Religion verklärte, lückenlos
absolutistische Imperium, der überwiegenden Mehrzahl der heutigen
römischen Katholiken ebenso unbekannt ist und, wenn er bekannt
würde, bei ihnen eben so wenig Zustimmung fände wie bei den Nicht-
katholiken. Und eine natürliche Folge hiervon — und, das merke
man wohl, nur hiervon! — ist, dass auch die religiösen Gegensätze
verschwunden sind.1) Denn sobald das römische Ideal lediglich ein
Credo ist, steht es auf derselben Stufe wie andere christliche Sekten;
eine jede glaubt ja im Besitze der alleinigen und ganzen Wahrheit zu
sein; keine hat meines Wissens die also verstandene Katholizität auf-
gegeben; die verschiedenen protestantischen Lehren sind durchaus nicht
ein prinzipiell Neues, sondern lediglich ein Zurückgreifen auf den
früheren Bestand des christlichen Glaubens, ein Abwerfen der heidnischen
Infiltrationen; nur wenige Sekten erkennen das sogenannte Apostolische
Glaubensbekenntnis nicht an, welches gar nicht einmal aus Rom stammt,
sondern aus Gallien und somit dem Kaisertum, nicht dem Papsttum
seine Einführung verdankt.2) Die römische Kirche ist also, sobald sie
lediglich als religiöses Bekenntnis betrachtet wird, im besten Fall ein
primus inter pares, der heute schon nicht mehr die Hälfte der Christen
die seinen nennt und, wenn keine Umwälzung stattfindet, in hundert
Jahren kaum noch ein Drittel umfassen wird.3) Hat nun auch — in

1) Verschwunden, meine ich, überall, wo nicht neuerdings durch die Thätig-
keit der einen einzigen Gesellschaft Jesu Hass und Verachtung gegen anders denkende
Mitbürger gesäet worden ist.
2) Siehe Adolf Harnack: Das apostolische Glaubensbekenntnis, 27. Auflage
(namentlich S. 14 fg.: »Das Reich Karl’s des Grossen hat Rom sein Symbol
gegeben«).
3) Mit Absicht richte ich mich hier nach einer äusserst mässigen Schätzung.
Nach den Berechnungen Ravenstein’s hat die Zahl der Protestanten sich im Laufe
unseres Jahrhunderts fast verfünffacht, die der römischen Katholiken sich nicht ver-
doppelt. Der Hauptgrund liegt in der schnelleren Vermehrung der protestantischen
Völker; dazu kommt aber, dass die Uebertritte zum Katholizismus nicht ein Zehntel
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[677/0156] Staat. Toleranz bereits so weit getrieben, dass sie mehrere Konfessionen zu- gleich als Staatsreligion anerkennen und ihre Geistlichen besolden. Schärfer kann der Gegensatz zum römischen Ideal gar nicht gefasst werden. Bezüglich des Staates ist folglich eine Statistik von »Katholiken« und »Protestanten« heute bedeutungslos. Mit diesen Worten wird fast lediglich der Glaube an bestimmte unbegreifliche Mysterien ausge- sprochen, und man darf behaupten, dass der grosse praktische und politische Gedanke Rom’s, jenes durch die Religion verklärte, lückenlos absolutistische Imperium, der überwiegenden Mehrzahl der heutigen römischen Katholiken ebenso unbekannt ist und, wenn er bekannt würde, bei ihnen eben so wenig Zustimmung fände wie bei den Nicht- katholiken. Und eine natürliche Folge hiervon — und, das merke man wohl, nur hiervon! — ist, dass auch die religiösen Gegensätze verschwunden sind. 1) Denn sobald das römische Ideal lediglich ein Credo ist, steht es auf derselben Stufe wie andere christliche Sekten; eine jede glaubt ja im Besitze der alleinigen und ganzen Wahrheit zu sein; keine hat meines Wissens die also verstandene Katholizität auf- gegeben; die verschiedenen protestantischen Lehren sind durchaus nicht ein prinzipiell Neues, sondern lediglich ein Zurückgreifen auf den früheren Bestand des christlichen Glaubens, ein Abwerfen der heidnischen Infiltrationen; nur wenige Sekten erkennen das sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis nicht an, welches gar nicht einmal aus Rom stammt, sondern aus Gallien und somit dem Kaisertum, nicht dem Papsttum seine Einführung verdankt. 2) Die römische Kirche ist also, sobald sie lediglich als religiöses Bekenntnis betrachtet wird, im besten Fall ein primus inter pares, der heute schon nicht mehr die Hälfte der Christen die seinen nennt und, wenn keine Umwälzung stattfindet, in hundert Jahren kaum noch ein Drittel umfassen wird. 3) Hat nun auch — in 1) Verschwunden, meine ich, überall, wo nicht neuerdings durch die Thätig- keit der einen einzigen Gesellschaft Jesu Hass und Verachtung gegen anders denkende Mitbürger gesäet worden ist. 2) Siehe Adolf Harnack: Das apostolische Glaubensbekenntnis, 27. Auflage (namentlich S. 14 fg.: »Das Reich Karl’s des Grossen hat Rom sein Symbol gegeben«). 3) Mit Absicht richte ich mich hier nach einer äusserst mässigen Schätzung. Nach den Berechnungen Ravenstein’s hat die Zahl der Protestanten sich im Laufe unseres Jahrhunderts fast verfünffacht, die der römischen Katholiken sich nicht ver- doppelt. Der Hauptgrund liegt in der schnelleren Vermehrung der protestantischen Völker; dazu kommt aber, dass die Uebertritte zum Katholizismus nicht ein Zehntel der Austritte aus dieser Kirche erreichen, wodurch z. B. bewirkt wird, dass in den

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/156>, abgerufen am 22.11.2024.